Geschichte des Parallelenproblems

(Vorlesung, gehalten an der Universität Frankfurt im WS 02/03)


von Klaus Volkert


In der Mathematik gibt es keinen Gegenstand, über welchen so viel gesprochen, geschrieben und gestritten ist, ohne zu einem erwünschten, entscheidenden Resultat gekommen zu sein, als die Parallelentheorie, sodaß sie d'Alembert "l'écueil et le scandale des éléments de Géométrie" nannte.

(Sohnke 1838, 368)


Leider finden sich von Zeit zu Zeit auch immer wieder einzelne Grübler, welche sich so lange und tief in verwickelte Schlußfolgerungen verstricken, bis sie die begangenen Fehler nicht mehr entdecken können und die Sache gelöst zu haben glauben. Namentlich der Satz von den Parallelen hat eine große Zahl scheinbarer Beweise hervorgerufen.

(Sohnke 1838, 368)


In der Theorie der Parallellinien sind wir jetzt noch nicht weiter als Euklid war. Dies ist die partie honteuse der Mathematik, die früh oder spät eine ganz andere Gestalt bekommen muß.

(Gauß an Schumacher, 1812)


Vorbemerkung: Der nachfolgende Text entstand aus einem Skriptum, das im Laufe mehrerer Vorlesungen zum Thema „Geschichte des Parallelenproblems“ bzw. zur „Geschichte der nichteuklidischen Geometrie“ entstanden ist. Diese Vorlesungen habe ich an den Universitäten Heidelberg und Stuttgart gehalten. Im WS 02/03 griff ich das Thema wieder auf. Der Fachbereich 12 Mathematik der Universität Frankfurt ermöglichte es mir durch finanzielle Hilfen, das alte Skriptum nach der Vorlesung überarbeiten, korrigieren und ergänzen zu lassen. Dieser anspruchsvollen und schwierigen Aufgabe hat sich dankenswerter Weise Frau Dr. M. Reményi (Heidelberg) unterzogen; der nachfolgende Text ist darum als eine gemeinsame Arbeit von uns beiden zu betrachten. Weiter hat Pascal Volkert geholfen, indem er die Zeichnungen anfertigte. Frauke Böttcher (Frankfurt) hat mich in der Vorbereitung und Durchführung der Vorlesung in vielfältiger Weise unterstützt. Den genannten Personen gilt mein Dank ebenso wie den Hörern der Vorlesung, die viel Engagement und Interesse mitbrachten.

Im Folgenden geht es hauptsächlich um die Vorgeschichte der heute so genannten nichteuklidischen Geometrie. Das fünfte Kapitel geht knapp auf die Anfänge der nichteuklidischen Geometrie ein; in der Vorlesung bin ich aber soweit nicht gekommen. Der Schwerpunkt meiner Darstellung lag auf den innermathematischen Fragen, weshalb ich des öfteren den tatsächlichen Weg der Geschichte verlassen habe (was aber in der Regel dann deutlich gesagt wird). Da die Geschichte des Parallelenproblems wie kaum eine andere Entwicklung in der Mathematikgeschichte unser heutiges Bild der Mathematik geprägt hat, scheint mir eine Beschäftigung mit dieser Geschichte in hohem Maße bildend zu sein. Hinzu kommt, dass gerade im Gymnasium die Parallelenlehre und die an sie anschließende Viereckslehre unter Einschluss der Lehre vom Flächeninhalt nach wie vor eine wichtige Rolle spielen. In Abwandlung des bekannten Mottos der Platonischen Akademie könnte man fordern: Es trete keine/keiner als Mathematiklehrer in den Schuldienst ein, der diese Geschichte nicht ausgiebig studiert hat! Sollte dieser Text dabei eine Hilfe sein, so würde mich das sehr freuen.

Die noch bestehenden Fehler (es werden nicht wenige sein) gehen selbstverständlich rein zu meinen Lasten. Für Hinweise, Kritik und Verbesserungsvorschläge bin ich jederzeit dankbar. Zum Schluss sei noch auf den Text der Klügelschen Dissertation verwiesen, den die geneigte Leserin/der geneigte Leser dank der Arbeit von Dr. M. Hellmann (Karlsruhe) auf meiner Homepage erstmals in deutscher Sprache lesen kann. An vielen Stellen bietet es sich an, die Ausführungen der Vorlesungen mit denen Klügels zu vergleichen.


Einleitung


Es ist häufig schwierig im Schulunterricht die rechte Motivation für die Euklidische Geometrie zu finden. Sie wird von Schülerinnen und Schülern häufig als trocken und bisweilen auch überflüssig empfunden, da die Aussagen aus einer natürlichen Anschauung heraus selbstverständlich erscheinen, die entsprechenden Beweise aber oft kompliziert sind und ihre Genese kaum nachvollziehbar ist.

Für die Gestaltung eines interessanten Geometrieunterrichts sind Kenntnisse über die zu vermittelnden Fakten hinaus sehr hilfreich. Insbesondere ein fundiertes Wissen über die historische Entwicklung geometrischer Konzepte, die mit Euklids Elementen beginnt und nach einer wechselvollen 2000-jährigen Geschichte letztendlich in der Entdeckung der wesentlichen mathematischen Werkzeuge zur Formulierung der Einsteinschen Relativitätstheorie mündet, ermöglicht es, Geometrie als mathematische Disziplin in einen umfassenderen Kontext einzubetten.

Die Geschichte der nichteuklidischen Geometrie ist gut dazu geeignet, Einsichten über Mathematikgeschichte als Teil von Kulturgeschichte zu gewinnen. Dies meint, dass die historische Untersuchung der Entwicklung mathematischer Ideen unvollständig und inkonsistent ist, schließt man in die Betrachtungen nicht auch die Geschichte der handelnden Personen, ihre mathematischen Techniken und darüber hinausgehenden kommunikativen Traditionen mit ein.

Mathematikgeschichte verläuft nicht immer linear, und die Entwicklungsgeschichte der nichteuklidischen Geometrie zeigt eindrücklich, dass die Geschichte der Mathematik bisweilen auch eine Geschichte der Irrtümer und der fehlgeleiteten Kommunikation ist.

Insofern können die nachfolgenden Betrachtungen dazu beitragen, das statische Bild von Mathematik zu dynamisieren und damit Mathematikunterricht interessanter zu gestalten, indem Inhalte in einen kulturellen Bedeutungszusammenhang eingebettet und so Verbindungen zu anderen Disziplinen hergestellt werden.

Die folgenden 5 Kapitel behandeln im Wesentlichen chronologisch die wichtigsten Etappen der Entwicklung der nichteuklidischen Geometrie.

Zunächst (Kapitel 1) wird die Parallentheorie von Euklid (3.Jahrhundert v. Chr.) vorgestellt, wie sie indem legendären Werk des Euklid, der Elemente zu finden ist. Ausgangspunkt ist dabei der zentrale Begriff der Parallelität „gerader Linien“ (Definition 23 bei Euklid) und das eigentliche Corpus Delicti, nämlich das sogenannte Parallenpostulat (Postulat 5 bei Euklid), welches über Jahrhunderte Gegenstand mathematischer Diskussionen war.

Kapitel 2 schildert die erste überlieferte kritische Auseinandersetzung mit dem Parallenpostulat, die den Kommentaren des neuplatonischen Philosophen Proklos (410/12-485) zu Euklids Elementen zu entnehmen sind. Diese Kommentare sind von entscheidender Bedeutung, da sie zur Grundlage der späteren Diskussionen im neuzeitlichen Europa wurden. Aufgezeigt werden die Schwierigkeiten des Parallelenbegriffs und das Grundproblem der Parallentheorie: Ist das Parallenpostulat ein beweisbarer Satz der sogenannten absoluten Geometrie (das sind alle Sätze in Euklids Geometrie, die nicht vom Parallenpostulat abhängen).

In Kapitel 3 wird ein Überblick über die wichtigsten Konzepte der sphärischen Geometrie gegeben. Diese zeigt viele Eigenschaften einer nichteuklidischen Geometrie, von denen einige schon zu Zeiten von Menelaos (ca. 100 n. Chr.) bekannt waren. Doch bis ins 19. Jahrhundert hinein wurde die sphärische Geometrie nicht als eigenständige Geometrie angesehen, da sie als Teilgeometrie der euklidischen Geometrie aufgefasst werden konnte.

Einige Beweisversuche für das Parallelelenpostulat sind Inhalt von Kapitel 4. Hier zeigt sich deutlich, wie wenig Mathematikgeschichte eine stetig aufeinander aufbauende Fortschrittsgeschichte ist. Sowohl direkte als auch indirekte Beweisversuche findet man in einem mehrere Jahrhundert umspannenden Zeitraum, die zum Teil aus ganz unterschiedlichen kulturellen und mathematischen Traditionen stammen. Wichtige Beiträge sind schon mittelalterlichen arabischen Überlieferungen zu entnehmen. Weitere wichtige Protagonisten wirkten sehr viel später, wie John Wallis (1616-1703, Lehrer von Newton), der italienische Jesuit Geronimo Saccheri (1667-1733), der Elsässer und Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften zur Zeit Friedrichs des Großen Johann Heinrich Lambert (1728-1777), und der Pariser Mathematiker Adrien Marie Legendre (1752-1833). Trotz mancher Unklarheiten leisteten sie wichtige vorarbeiten zu den Ideen des berühmten Carl Friedrich Gauss (1777-1855), des ungarischen Privatgelehrten Janos Bolyai und des Kasaner Mathematikprofessors Nikolaus Lobatschewski (1793-1856), die in Kapitel 5 besprochen werden. Diese Mathematiker vollzogen unabhängig voneinander in geringem zeitlichen Abstand den wichtigen erkenntnistheoretischen Schritt, an die Existenz einer hyperbolischen Geometrie (das ist die Geometrie, in der es zu einer Gerade g und einem Punkt P außerhalb von g genau zwei Parallelen gibt) zu glauben, und basierend auf Vorarbeiten Anderer ihre logische Existenz zu beweisen.

Allerdings dauerte es noch einige Jahrzehnte, bis diese fundamental neue Auffassung des geometrischen Raumes als Teil der Mathematik akzeptiert und die Fruchtbarkeit der neuen Konzepte weitere wichtige mathematische Entdeckungen nach sich zog.


1 Euklids Parallelentheorie


Euklid von Alexandria wirkte im 3. Jahrhundert v. Chr. an der Bibliothek von Alexandria. Er galt schon in der Antike als „der Geometer“, doch gibt es darüber hinaus seine Biographie betreffend wenig verlässliche Quellen. Selbst die Lebensdaten sind strittig: man vermutet ca. 320-260 v. Chr.

Euklids unermesslicher Einfluss auf die europäische Geistesgeschichte beruht auf seinem mathematischen Hauptwerk, den aus den 13 Büchern (meint 13 Kapitel) bestehenden Elementen (entstanden etwa 280 v. Chr.). Darin hat Euklid systematisch die gesamte Mathematik seiner Zeit aufgearbeitet. Der Vorbildcharakter der Elemente beruht auf der von Euklid streng durchgeführten axiomatisch-deduktiven Methode. Diese Art der Darstellung, die selbst heute noch als beispielhaft gilt, war wohl auch die eigentliche Leistung Euklids. Ob er selber eigene mathematische Sätze gefunden hat, ist nicht bekannt. Die Wirksamkeit der Elemente ist auch eine Folge der Tatsache, das keine anderen vergleichbaren mathematischen Texte aus dieser Epoche überliefert sind.

Abenteuerlich ist die Überlieferungsgeschichte der Elemente; kaum ein anderes mathematisches Werk wurde so oft kopiert und dabei kommentiert und (den mittelalterlichen Gepflogenheiten entsprechend) auch verändert.

Die erste gedruckte Fassung aus dem Jahr 1482 geht zurück auf eine Ausgabe der Elemente von Theon von Alexandria aus dem 4. Jahrhundert n. Chr. Diese Version war selbst schon eine Kopie der Kopie, wobei Theon auch sehr großzügig bearbeitet hat. 400 Jahre später wurde Theons Ausgabe ins Arabische übersetzt. Wiederum eine Kopie (der Kopie der Kopie...) dieser Übersetzung diente 1120 dem englischen Philosophen Adelard von Bath als Vorlag für eine Übersetzung ins Lateinische. Um 1270 hat der italienische Gelehrte Campanus von Novara eine Überarbeitung dieser Übersetzung erstellt. Seit 1482 kursierten mehrere griechische Fassungen von Theons Bearbeitung. Erstaunlicherweise tauchte auch eine griechische Ausgabe der Elemente auf, die nicht auf Theon zurückgeht. Letzere wurde in den 1880er Jahren von dem dänischen Philologen J.L. Heiberg herausgegeben. Möglicherweise ist diese Fassung die authentischste. Wir beziehen uns im Folgenden auf eine deutsche Übersetzung der Heibergschen Ausgabe (Euklid 1962). Die Parallelentheorie Euklids findet sich im I. Buch der Elemente, das der Elementargeometrie gewidmet ist. Das Buch beginnt mit 23 Definitionen, 5 Postulaten und 9 Axiomen. Vom heutigen logisch-strukturellen Standpunkt aus gesehen macht man häufig keinen Unterschied mehr zwischen Postulaten und Axiomen, sondern spricht nur noch von Axiomen. Nach den Definition, Postulaten und Axiomen folgen 48 Sätze (Bezeichnung im Folgenden: §1-§48; bisweilen auch I,1- I,48; dabei steht I für I. Buch). Den für uns zentralen Begriff der Parallelität beschreibt



Definition 23: Parallel sind gerade Linien, die in derselben Ebene liegen und dabei, wenn man sie nach beiden Seiten ins unendliche verlängert, auf keiner einander treffen.

Schon früher taucht der Begriff parallel in einem alten Text über die „Möndchenquadraturen des Hippokrates“ (Hippokrates von Chios, ca. 4. Jahrh. v. Chr.) auf:

Hiernach setzt er ihn zunächst größer als einen Halbkreis voraus, indem er ein Trapez konstruiert mit drei einander gleichen Seiten, während die eine, die größere der parallen, in der Potenz dreimal so groß ist wie jede von jenen, ... (Quelle: Simplikios, in: Rudio 1905, 53).

Dem Wortsinn nach beschreibt das griechische Wort parallel „zwei nebeneinander gezogene Geraden“ (Tropfke 1923, 53).


Das im Folgenden als Parallelenpostulat, kurz PP, bezeichnete Postulat ist das


Postulat 5 (=Axiom 11): [Gefordert soll sein:] Und dass, wenn eine gerade Linie beim Schnitt mit zwei geraden Linien bewirkt, dass innen auf derselben Seite entstehende Winkel zusammen kleiner als zwei Rechte werden, dann die zwei geraden Linien bei Verlängerung ins unendliche sich treffen auf der Seite, auf der die Winkel liegen, die zusammen kleiner als zwei Rechte sind.

Der Begriff aus Definition 23 ist heute Teil der Inzidenzgeometrie, und somit elementar. Anschaulich problematisch ist allerdings die Formulierung „Verlängerung ins Unendliche“ (die auf Herrmann Weyl zurückgehende Vorstellung geht hier davon aus, dass bei Drehung der Schnittpunkt verschwindet, um auf der anderen Seite wieder zum Vorschein zu kommen), weshalb häufig in der Schule eine andere Beschreibung von Parallelität gewählt wird.

Die heute gebräuchliche Version des Parallelenaxioms („zu gegebener Geraden g und gegebenem Punkt P existiert genau eine parallele Gerade h mit P liegt auf h“) ist, setzt man die absolute Geometrie voraus, äquivalent zu Euklids Postulat 5. Der Grenzfall, dass eine Gerade g zu sich selbst parallel ist, wird durch Postulat 5 nicht abgedeckt.

Das moderne Parallelenaxiom ist konzeptionell wesentlich einfacher als Postulat 5, da es ohne den Winkelbegriff auskommt.

Euklid trennt sorgfältig Sätze, die vom PP nicht abhängen (Sätze der absoluten Geometrie) und solche, die von diesem abhängen (Sätze der euklidischen Geometrie): Die Sätze 1 bis 28 sowie einige wenige spätere Sätze (wichtig: I,31) sind unabhängig vom PP. Dies macht er selbst dann, wenn der Beweis eines Satzes viel einfacher würde unter Benutzung von PP (Beleg: Kongruenzsatz WSW [= I,26]).

Die Sätze I,27 bis I,32 nennt man Parallelentheorie.

Vorsicht: Es gibt Sätze der Parallelentheorie, welche nicht vom PP abhängen (nämlich I,27; I,28 und I,31). Dagegen hängt die Existenz von Parallelengrammen (I,33) (auch: Rechtecken, welche bei Euklid nicht explizit behandeln werden) und Quadraten (I,46) und damit auch der Satz des Pythagoras (I,47) von PP ab! Nach I,32 hängen folgende Sätze von PP ab: 33, 34, 35, 37, 41, 46, 47, 48 und 49.

§ 27: Wenn eine gerade Linie beim Schnitt mit zwei geraden Linien einander gleiche (innere) Wechselwinkel bildet, müssen diese geraden Linien einander parallel sein.

Beweis: Mit Hilfe von I,16 (schwacher Außenwinkelsatz) durch Widerspruch [gäbe es einen Schnittpunkt, so entstände ein Dreieck mit einem Außenwinkel, welcher gleich einem gegenüberliegenden Innenwinkel ist].


Einschub


§ 16 (schwacher Außenwinkelsatz) An jedem Dreieck ist der bei Verlängerung einer Seite entstehende Außenwinkel größer als jeder der beiden

gegenüberliegenden Innenwinkel.

Beweis: Sei das Dreieck ABC gegeben, verlängere BC über C hinaus nach D.

Halbiere AC in E (§ 10), verbinde B mit E, verlängere BE über E hinaus und trage auf der Verlängerung BE ab (§ 3); Endpunkt sei F. Verbinde F mit C und verlängere AC über C hinaus nach G. Die Dreiecke ABE und ECF sind nach §4 kongruent.


Folglich sind die Winkel BAE und ECF gleich [kongruent]. Aber ECD > ECF (Ax. 8); also ist ACD > BAE. Ähnlich läßt sich, bei Halbierung von BC zeigen, dass auch BCG, d.h. ACD > ABC.


Eine direkte Folgerung aus I,16 ist der Satz 17 bei Euklid: In jedem Dreieck sind zwei Winkel, beliebig zusammengenommen, stets kleiner als zwei Rechte. Dass die Sätze I,16 und I,17 schon Aristoteles bekannt gewesen sein müssen, zeigt das folgende Zitat aus dessen „Erster Analytik“: So folgt z. B., dass die Parallelen zusammentreffen, sowohl wenn der Innenwinkel größer ist als der Außenwinkel, als auch, wenn das Dreieck mehr als zwei rechte Winkel hat. (Erste Analytik, 66a23ff).

In der sphärischen Geometrie gilt der Außenwinkelsatz (und auch I,17) übrigens nicht, weil es z.B. Dreiecke mit drei rechten Winkeln gibt und zwei rechten Außenwinkeln. Im Beweis des Außenwinkelsatzes wird benutzt, dass man die Seite BE verdoppeln kann. Dies ist in der sphärischen Geometrie nicht immer möglich (Kongruenzaxiom, Antragen einer Strecke an eine gegebene Strecke).


§ 28: Wenn eine gerade Linie beim Schnitt mit zwei geraden Linien bewirkt, dass ein äußerer Winkel dem auf derselben Seite innen gegenüberliegende Winkel [Stufenwinkel] gleich oder innen auf derselben Seite liegende Winkel zusammen zwei Rechten gleich werden, dann müssen diese geraden Linien einander parallel sein.

Beweis: Zurückführen auf § 27 vermöge Scheitelwinkel bzw. Ergänzung zu zwei Rechten.


Man kann § 28 als Umkehrung des PP auffassen. Gilt + = 2R, so sind die Geraden parallel (der Fall + > 2R kommt aus Symmetriegründen nicht in Betracht). Nimmt man PP an, so sind nach § 28 somit die Aussagen 'g und h sind parallel' und ' + = 2R' äquivalent! Vgl auch § 32.

Da man o.B.d.A. den Winkel = R annehmen kann, läßt sich die Aussage, welche aus § 28 plus PP folgt, auch so formulieren: Der Parallelwinkel (das sind diejenigen Werte für , für die im Falle = R Parallelität eintritt) in der euklidischen Geometrie ist einzig und allein der rechte Winkel.

Die Sätze 27 und 28 liefern Parallelitätskriterien, welche im Endlichen nachprüfbar sind. Sie lösen damit das weiter oben angesprochene Problem, dass man, um herauszufinden, ob zwei Geraden tatsächlich parallel sind, diese ja in ihrem ganzen unendlichen Verlauf untersuchen müßte.


§ 29: Beim Schnitt einer geraden Linie mit (zwei) parallelen geraden Linien werden (innere) Wechselwinkel einander gleich, jeder äußere Winkel wird dem innen gegenüberliegenden gleich, und innen auf derselben Seite entstehende Winkel werden zusammen zwei Rechten gleich.


Beweis: a) Angenommen AGH und GHD wären nicht gleich, dann o.B.d.A. AGH > GHD. Füge auf beiden Seiten der Ungleichung BGH hinzu: AGH + BGH > BGH + GHD. AGH und BGH sind Nebenwinkel, folglich zusammen gleich 2R (§ 13). Somit ist BGH + GHD < 2R. Also sind die Voraussetzungen von PP erfüllt, und AB sowie CD besitzen in der Halbebene EFB+ einen Schnittpunkt. Das ist aber ein Widerspruch zur Voraussetzung, dass die beiden Geraden parallel sein sollen.

b) Die Winkel AGH und EGB sind Scheitelwinkel, somit nach § 15 gleich. Also sind auch die Winkel EGB und GHD gleich.

c) Zu EGB und GHD füge man jeweils BGH hinzu. Dann ist EGB + BGH = GHD + BGH. Die linke Seite ist aber = 2R, also auch die rechte.


Hier wird also erstmals von PP Gebrauch gemacht. Unklar ist aber immer noch, ob es überhaupt Parallelen gibt; I,29 gilt selbst dann, wenn es überhaupt keine Parallelen geben würde. Das Existenzproblem wird sogleich -nämlich in I,31- in Angriff genommen.


§ 30: Derselben geraden Linien parallele sind auch einander parallel.

Beweis: Folgt direkt aus § 29 unter Berücksichtigung der Transitivität der Gleichheit für Winkel.


Aus der Transitivität der Parallelitätsrelation folgt sofort folgende Eindeutigkeitaussage: „Durch einen Punkt P gibt es höchstens eine Parallele zu einer Geraden g, die nicht durch P geht.“ Gäbe es nämlich zwei Parallelen h und k durch P zu g, so wären diese in Folge der Transitivität auch zueinander parallel, dürften also keinen Punkt gemeinsam haben. Da sie aber beide durch P gehen, ist dies ein Widerspruch zur Voraussetzung. Umgekehrt kann man aus der Eindeutigkeit der Parallelen auch PP ableiten -vorausgesetzt man weiß, dass es überhaupt eine Parallele gibt.

§ 31: Durch einen gegebenen Punkt eine einer gegebenen geraden Linie parallele gerade Linie zu ziehen.






Beweis: Nach § 27 genügt es, für gleiche Wechselwinkel zu sorgen. Dies läßt sich vermöge der Winkelabtragung (§ 23) leisten. Ist die Gerade BC gegeben sowie der Punkt A nicht auf dieser Geraden, so nehme man in BC einen Punkt D, verbinde diesen mit A und trage ADC in A (in der Halbebene DAB+) an.


Es handelt sich hierbei um eine Konstruktionsaufgabe. Zu diesen schreibt Proklos (s. unten Kapitel 2) sehr treffend: Denn vielfach macht uns der Werdegang eines Objektes sein Wesen klarer (Proklos 1945,428).

Man beachte, dass Euklid sehr sorgfältig bezüglich des Existenzproblemes des Punktes D ist. Alternativ hierzu könnte man von A das Lot auf BC fällen, was die Existenz des Lotfußpunktes garantiert (§ 12).

Die Formulierung von § 31 mit dem Zusatz, dass die Parallele eindeutig sein soll, ist die heute übliche, als Axiom im wesentlichen auf J. Playfair [1748? - 1819] (1796: Elements of Geometry) zurückgehende Form: Durch einen einer Geraden nicht inzidierenden Punkt gibt es genau Parallele (euklidischer Fall). Im Vorwort zu seinen Elements schreibt Playfair: A new axiom is also introduced in the room of he 12th [das ist PP], for the purpose of demonstrating more easily some of the properties of parallel lines. (zitiert bei Hartshorne 2000, 300). Das Axiom, das Playfair dann formuliert, lautet so (vgl. Hartshorne 2000, 300): Two straight lines that intersect one another cannot be both parallel to the same staight line. Dagegen beweist Euklid nur, dass es mindestens eine Parallele, also eine nicht schneidende Gerade geben muss. Mit der schwächeren Aussage mindestens ist das, wie Euklid zeigt, ein Satz der absoluten Geometrie (vgl. Kapitel 4 unten).

Die Eindeutigkeit der Parallelen kann man entweder direkt aus PP folgern oder aber vermöge eines Widerspruchbeweises aus §30, wobei natürlich der zuletzt genannte Satz von PP abhängt (s. oben).

Der Grenzfall, dass A auf BC liegt, wird von Euklid im Sinne seiner Definition des Begriffes parallel ausgeschlossen; heute nimmt man ihn hinzu, um zu garantieren, dass die Parallelität eine Äquivalenzrelation wird.


Man kann sogar beweisen, dass PP der folgenden, wesentlich schwächeren Aussage äquivalent ist: Es gibt eine Gerade g und einen nicht mit g inzidierenden Punkt P, so dass es durch P genau eine Parallele zu g gibt.

Die Beweisidee ist die folgende: Ganz wie Euklid zeigt man, dass die Wechselwinkel an g und an der Parallelen zu g durch P kongruent sind. Hieraus folgt aber analog dem Euklidischen Beweis für den Winkelsummensatz (§ 32, siehe unten), dass es ein Dreieck der Winkelsumme 2R gibt. (Hierzu braucht man natürlich noch die Existenz zweier Punkte auf g. Das ist aber wegen der entsprechenden Axiome gar kein Problem.) Damit haben aber alle Dreiecke diese Winkelsumme (vgl. Bemerkung zu § 32 unten), weshalb die Geometrie euklidisch ist.


Schließlich sei noch auf einen interessanten Zusammenhang zur Existenz von Kreisen hingewiesen, in dem das Axiom von Playfair steht: Ist P der Punkt, durch den die Parallele zur Geraden g gezogen werden soll, so nehme man auf g zwei Punkte A und B. Nun ziehe man den Kreis, der durch die drei Punkte A, B und P festgelegt wird; weiter ziehe man um B einen Kreis mit dem Radius AP. Ist Q der Schnittpunkt der beiden Kreise, welcher in derselben Halbebene bezüglich g wie P liegt, so ist PQ die gesuchte Parallele. Sollte AP gleich BP sein, so ersetze man A durch einen anderen geeigneten Punkt der Geraden g.

Fazit: Kann man durch drei Punkte, die nicht auf einer Geraden liegen, immer einen Kreis ziehen, so läßt sich das Axiom von Playfair (und damit auch Euklids PP) beweisen!

Überlegungen der geschilderten Art traten im Zusammenhang mit dem Versuch auf, alle Konstruktionen der Elementargeometrie allein mit dem Zirkel auszuführen (dabei gilt eine Gerade als konstruiert, wenn man zwei ihrer Punkte konstruiert hat). Diese wurden systematisch dargestellt von Lorenzo Mascheroni in seinem 1797 zu Pavia erschienenen Buch Geometria della compasso (französisch 1798, deutsch 1825). Mascheroni hatte kurze Zeit vor Erscheinen seines Buches die Bekanntschaft Napoleons gemacht, der ihn sehr schätzte und in die neu gegründete Kommission für Maße und Gewichte berief. Die erste Aufgabe, welche Mascheroni in seinem Buch behandelt, ist heute als Napoleonische Aufgabe bekannt: Die Kreislinie ist mit dem Zirkel allein in vier gleich lange Stücke zu zerlegen (Konstruktion des dem Kreis einbeschriebenen Quadrats). Mehr als 100 Jahre zuvor hatte bereits der Däne Georg Mohr (Euclidis Danicus, 1672) die Konstruktionen mit dem Zirkel allein behandelt, was aber erst Ende des 19. Jahrhunderts bemerkt wurde (vgl. Scriba/ Schreiber 2001, 378-380).

Ausdrücklich auf den geschilderten Zusammenhang zu PP hingewiesen hat dann Wolfgang (=Farkas) Bolyai zu Beginn des 19. Jahrhunderts.


Aufgabe: Verifizieren Sie mit den üblichen Hilfsmitteln, dass die Gerade durch P und Q parallel zu derjenigen durch A und B ist. (Bezeichnungen beziehen sich auf obige Situation.)


Quintessenz: Auch ohne PP (wir haben nur § 27 verwendet) ist die Existenz von mindestens einer Parallelen beweisbar! Allerdings braucht man hierzu via § 16 den schwachen Außenwinkelsatz. Gilt dieser, so ist die Existenz einer Parallelen gesichert. Die Eindeutigkeit der Parallelen ergibt sich dagegen erst unter Hinzunahme des PP.


§ 32: (starker Außenwinkelsatz, Satz über die Winkelsumme im Dreieck) An jedem Dreieck ist der bei Verlängerung einer Seite entstehende Außenwinkel den beiden gegenüberliegenden Innenwinkeln zusammen gleich, und die drei Winkel innerhalb des Dreiecks sind zusammen zwei Rechten gleich.


Beweis: Bilde den Außenwinkel ACD, ziehe durch C die Parallele zu AB (nach § 31); diese heiße CE. Dann sind BAC und ACE nach § 29a gleiche Wechselwinkel sowie ECD und ABC nach § 29b gleiche Stufenwinkel. Also ist ACD gleich der Summe der beiden Innenwinkel, und alle drei Winkel des Dreiecks zusammen ergeben zwei Rechte.


Der Satz über die Winkelsumme im Dreieck hängt also über § 29 von PP ab. Eigentlich benützt Euklid mehr als § 31, denn er verwendet die Eindeutigkeit der Parallelen durch C zu AB, welche ihrerseits wiederum erst durch PP garantiert wird. Da er aber §29 braucht, ist die Verwendung von PP sowieso unumgänglich.

Der Euklidische Beweis ist im Wesentlichen der heute noch in der Schule gängige.

Man kann zeigen: Ist die Winkelsumme in einem einzigen Dreieck gleich zwei Rechten, so in jedem Dreieck (Saccheri, Legendre, vgl. Kapitel 4). Allerdings braucht man dazu wieder die Archimedizität: Man muss u.a. beweisen, dass die Winkelsumme nicht größer als zwei Rechte sein kann (erster Satz von Legendre, vgl. Kapitel 4). Der Winkelsummensatz legt die Idee nahe, die Geltung des PP durch Ausmessen der Winkelsumme eines Dreiecks zu überprüfen: Sollte sich herausstellen, dass es ein Dreieck gibt, in dem die Winkelsumme signifikant von 2R abweicht, so wäre damit PP falsifiziert! Allerdings lässt sich PP auf diese Weise - sieht man einmal von dem Problem ab, dass eine Messung gemäß unserer modernen Auffassung ja nur für eine interpretierte Geometrie [Geraden = Lichtstrahlen], nicht aber für die eigentliche mathematische Theorie möglich ist - sicher nicht verifizieren wegen unumgänglicher Messfehler. Die geschilderte Möglichkeit wird schon bei Lobatschewski (vgl. Lobatschefskij 1902, 76 - 78, siehe Kapitel 5) diskutiert. Manche Autoren bringen auch Gaußens Messung eines sehr großen Dreiecks im Harz (Brocken - Hohehagen - Inselsberg; Seitenlängen etwa 69, 85 und 107 km) hiermit in Verbindung. Vgl. aber hierzu: E. Breitengerger: Gauß's Geodesy and the Axiom of Parallels (Archive for History of Exact Sciences 31 (1984), 273 - 289) sowie E. Scholz: Gauß und die Begründung der "höheren" Geodäsie. In: Amphora. Festschrift für Hans Wussing zu seinem 65. Geburtstag, hg. von S. S. Demidov u.a. (Basel-Boston-Berlin, 1994)).

Proklos (s. Kapitel 2) schreibt die heute gängige Form des Beweises (Parallele durch die Spitze des Dreiecks zur Grundseite [in der Schule meist durch Parallelverschiebung]) unter Berufung auf Eudemos den Pythagoreern zu (S. 430).

Bemerkung: Der Satz über die Winkelsumme im Dreieck ist dem PP äquivalent, wenn man alle anderen Axiome und Postulate von Euklid (also die sogenannte absolute Geometrie) voraussetzt.


Beweis: Aus Euklids Beweis wissen wir, dass PP plus absolute Geometrie den Winkelsummensatz impliziert. Zu zeigen bleibt, dass umgekehrt der Winkelsummensatz plus absolute Geometrie das PP liefert. Der Beweis hierfür, der wesentlich neueren Datums ist (Überlegungen ähnlicher Art findet man bei Saccheri 1733 [Buch I, Teil I, Lehrsätze XI und XIII; siehe dazu Stäckel/Engel 1895, 60-62 und 63-67]), ist sehr instruktiv. Darüber hinaus findet die Beweisidee in verschiedenen Variationen Verwendung in der hyperbolischen Geometrie, weshalb ich ihn hier unter Vorgriff auf die spätere Entwicklung schon vorführen möchte.

Wir wollen somit zeigen, dass sich zwei Geraden g und h mit + < 2R stets schneiden. O.B.d.A. dürfen wir einen dieser Winkel gleich R nehmen, weshalb der verbleibende - sagen wir, dies sei - ein spitzer Winkel sein muß. wir haben also folgenden Situation:

Auf der Halbgeraden g+, welche durch die Forderung festgelegt wird, dass diese in der selben Halbebene bezüglich der Transversalen PA liegen soll, in der auch der Winkel liegt, trage man von A ausgehend die Strecke AP ab. Der entstehende Endpunkt A' werde mit P verbunden, was zu einem gleichschenkligen Dreieck PAA' führt. Weil wir den Winkelsummensatz voraussetzen, können wir mit I,5 („Basiswinkel im gleichschenkligen Dreieck sind gleich“) die Winkel PA'A und APA' leicht berechnen, da der Winkel bei A ja ein rechter sein soll. Wir finden für diese Winkel den Wert /4.

Im nächsten Schritt konstruieren wir ein weiteres gleichschenkliges Dreieck, indem wir von A' ausgehend auf g+ die Strecke A'P abtragen. Der entstehende Endpunkt sei A''; er werde mit P verbunden, was zu dem gleichschenkligen Dreieck PA'A'' führt. Die Basiswinkel auch dieses Dreiecks sind leicht zu berechnen; man findet den Wert /8. So fahre man fort bis die Verbindung PA(n) oberhalb des freien Schenkels h+ liegt. Das muß einmal eintreten, da für den Winkel APA(n) nach Konstruktion gilt:

APA(n) = /4 + /8 + ... + /(2n+1)

Folglich kann dieser Winkel beliebig nahe an /2 herankommen. Andererseits war aber ein spitzer Winkel. Um die Aussage, dass PA(n) oberhalb von h+ liegt, zu präzisieren, errichtet man am besten in P die Senkrechte s auf der Transversalen PA (sog. Doppellot). Dann bedeutet oberhalb, dass PA(n) im Winkelraum zwischen h+ und derjenigen auf dem Doppellot liegenden Halbgeraden s+ liegt, welche sich in der Halbebene PAA'+ befindet.

Nun haben wir also die Situation, dass die Halbgerade h+ in das Innere des Dreiecks PAA(n) eintritt, folglich muss sie eine weitere Seite dieses Dreiecks nach den Anordnungsaxiomen schneiden (das ist im wesentlichen [aber nicht ganz!] das Axiom von Pasch - vgl. das „crossbar theorem“ bei Hartshorne 2000, 77). Da P auf PA(n-1) und auf PA(n) liegt, kann der Schnittpunkt nach dem zweiten Inzidenzaxiom nur ein Punkt der offenen Strecke AA(n) sein. Also schneiden sich g und h (und zwar auf der richtigen Seite), was zu beweisen war.


Man bemerkt, dass ein solcher Äquivalenzbeweis durchaus nicht auf der Hand zu liegen braucht. Wir werden auf das Problem der dem PP äquivalenten Aussagen (genauer: modulo absoluter Geometrie äquivalenter Aussagen) im weiteren Verlauf dieser Vorlesung noch häufig zu sprechen kommen.


Auch in der sich bei Euklid anschließenden Flächeninhalts- und Figurenlehre spielt das PP eine wichtige Rolle, so schon in den

§ 33 und § 34, in denen es um das Parallelogramm geht:

Strecken, welche gleiche und parallele Strecken auf denselben Seiten verbinden, sind auch selbst gleich und parallel.

Im Parallelogramm sind die gegenüberliegenden Seiten sowohl als Winkel einander gleich, und die Diagonale halbiert es.

Beweis: (§ 33) Sind die gleich langen Strecken BA und DC auf Parallelen gegeben, so verbinde man B mit D und A mit C und ziehe die Diagonale BC. Die Aussage folgt aus der Kongruenz der Dreiecke BDC und BCA, welche ihrerseits (SWS) aus der Gleichheit der Wechselwinkel bei B und C folgt (nach § 29).

(§ 34) Folgt analog aus der Betrachtung kongruenter Dreiecke.


Bringt man allgemein zwei Streifen (Parallelenpaare) zum Schnitt, so entsteht ein Viereck. Daß dieses aber spezielle Eigenschaften (nämlich diejenigen des Parallelogramms) besitzt, bedarf des Beweises. Für diesen braucht Euklid das PP. Die Eigenschaften des Rechtecks ergeben sich unmittelbar aus § 33 und § 34, wenn man rechtwinkligen Schnitt verlangt.



§ 46: Über einer gegebenen Strecke das Quadrat zu zeichnen.


Beweis: Ist AB die gegebene Strecke, so errichte man in A die Senkrechte (§ 11) und trage auf dem entstehenden Strahl die Strecke AB von A aus ab; Endpunkt sei D. Nun ziehe man durch D die Parallele zu AB und durch B die Parallele zu AD. Schnittpunkt sei C. Nach Konstruktion ist das Quadrat aber ein spezielles Parallelogramm, woraus seine Rechtwinkligkeit folgt (nach § 34).


Aus der Tatsache, dass Euklid das PP in einem Beweis verwendet, folgt natürlich noch nicht, dass man diesen tatsächlich verwenden muss!


Aufgabe: Weisen Sie mit PP nach, dass die in D und B errichteten Senkrechten einander schneiden (Bezeichnungen wie in § 46).



2 Kritik an Euklids Parallelentheorie bei Proklos


Der neuplatonische Philosoph Proklos Diadochos (410/12 - 485) war an der Athener Akademie tätig. Er ist der Verfasser eines Kommentars zum ersten Buch der Elemente des Euklid. Dieser Kommentar gilt als wichtigste Quelle für Hintergrundinformationen zur antiken Mathematik. Zur besseren historischen Orientierung wollen wir hier ein grobe chronologische Strukturierung der antiken Mathematik geben, wobei die Übergänge zwischen den nachfolgend angegebenen vier Phasen natürlich fließend sind:

  1. Entstehungsphase, 600-300 v.Chr.; das Zentrum der Aktivitäten ist Athen; neben Anderen bestimmen Thales, Platon und Aristoteles die Mathematik dieser Epoche; Euklid gibt, wie schon erwähnt, annähernd eine Zusammenfassung der Inhalte dieser Zeit.

  2. Hellenistische Phase, 300-100 v.Chr.; man betrachtet diese als die Hochphase der griechischen Mathematik, deren Zentrum in Alexandria lag. Die wichtigen Personen dieser Epoche waren (neben Euklid, der auch hierzu noch zu zählen ist) Archimedes und Apollonius.

  3. Der Zeitraum 100 v. Chr. - 300 n.Chr. wurde im Wesentlichen von Heron und Diophant bestimmt. Von einem herausragenden geographischen Zentrum kann man für diesen Zeitraum nicht sprechen.

  4. Die Phase der Kommentatoren, 300-600 n.Chr., wurde geprägt von Pappos, Simplicius und dem oben erwähnten Proklos.


Proklos schreibt zum PP:

Dieser Satz ist aus der Reihe der Forderungen [=Postulate] völlig zu streichen; denn er ist ein Lehrsatz mit vielen Schwierigkeiten, die zu lösen Ptolemaios [= Klaudios Ptolemaios, 2. Jh. n. Chr.] in einem Buch sich als Aufgabe stellte. Es bedarf zu seinem Beweise vieler Definitionen und anderweitiger Lehrsätze und seine Umkehrung beweist Euklid selbst als Lehrsatz. (Proklos 1945, 301)

Das Argument, Euklid beweise die Umkehrung des PP (nämlich in § 17 oder in § 28), tritt bei Proklos mehrfach auf. So heißt es etwa:

Wie sollte es auch nicht lächerlich sein, Sätze zu den unbeweisbaren zu zählen, deren Umkehrungen beweisbare Lehrsätze sind? Denn dass die Innenwinkel zweier zusammenstoßender Geraden kleiner sind als zwei Rechte, beweist Euklid selbst in jenem Lehrsatz, dass in jedem Dreieck zwei Winkel, man mag sie nehmen wie immer, <zusammen> kleiner sind als zwei Rechte. [Das ist die Aussage von I,17]... Es ist demnach, sagt Geminos, nicht zuzugeben, dass Sätze, die zu diesem die Umkehrung bilden, unbeweisbar sind. Es scheint also nach dessen Aufstellung, dass drei der Sätze Forderungen sind, die beiden anderen aber des Beweises durch die Wissenschaft bedürfen, sie selbst und ihre Umkehrungen. (Proklos 1945, 295)


Aufgabe: Diskutieren Sie diese Kritik aus moderner Sicht.


Den erwähnten Beweis von Ptolemaios gibt Proklos allerdings nicht wieder; er diskutiert nur einen Scheinbeweis dafür, dass sich zwei Geraden auch unter den Voraussetzungen des PP nicht schneiden können. Dieser beruht auf einem ähnlichen Argument wie das Wegparadoxon des Zenon (um eine Strecke zu durchlaufen, muss man erst deren Hälfte zurücklegen, ...) [Proklos 1945, 423f].

In seinen Erläuterungen zu §28 gibt Proklos einen Beweis des Ptolemaios wieder für die Behauptung, „dass die Geraden parallel sind, wenn die Innenwinkel zwei Rechte ausmachen“ (Proklos, 1945, 419). Der Beweis beruht auf einem Symmetrieargument: Gäbe es auf der einen Seite einen Schnittpunkt, dann auch auf der anderen Seite (weil sich hier die Nebenwinkel zu zwei Rechten ergänzen). Also würden die beiden Geraden einen Flächenraum einschließen, was gemäß Axiom 9 nicht möglich ist.

Eine Idee, wie der Beweis von Ptolemaios ausgesehen haben könnte, vermitteln Proklos’ Ausführungen zum Satz 29 (Proklos 1945, 421f). Dort legt er dar, Ptolemaios habe gezeigt: 1) Wenn + = 2R, dann schneiden sich die Geraden nicht. [= § 28, unabhängig von PP]; 2.) Wenn zwei Geraden parallel sind, dann ist + = 2R [= § 29c, abhängig von PP]; 3.) Sei + < 2R, aber die Geraden nicht schneidend. Dann wären sie parallel und nach 2) müßte dann + = 2R sein. Widerspruch!

Der Beweis von 1) dürfte auf dem oben geschilderten Symmetrieargument beruht haben (vgl. S. 419). Dieses lässt sich besonders elegant für das Doppellot verwenden: Errichtet man in einem Punkt von g die Senkrechte h und in einem Punkt von h (der nicht gerade dessen Schnittpunkt mit g sein sollte) nochmals die Senkrechte, so ist dieses Doppellot parallel zu g.



Für die Zweifel am PP lassen sich folgende Gründe rekonstruieren:

1) Das PP ist in seiner Formulierung ungewöhnlich lang und umständlich.

2) Die Aussage des PP ist nicht evident (vgl dazu Proklos: Denn dann ist es notwendig zu zeigen, [wenn Euklid sich des PP bedient], dass seine Evidenz nicht ohne Beweise einleuchtet, sondern erst durch Beweise klar wird. (Proklos 1945, 302))

3) ... dass, während die übrigen Axiome in der Mathematik sich auf rein quantitative Verhältnisse beziehen, dieses [gemeint: PP] gerade ein qualitatives zum Gegenstand hat. (Sohnke 1838, 368) Sohnke nennt im übrigen die Parallelentheorie des Euklid durchaus vollständig und streng richtig. (Sohnke 1838, 368)

4) Asymptotisches Verhalten war von der Hyperbel und der Konchoide her bekannt. Es drängt sich also die Frage auf, ob sich auch Geraden asymptotisch verhalten können? Vgl. Proklos 1945, 420: Unbeschränkte Annäherung bedeutet noch nicht unbedingt die Existenz eines Schnittpunktes, und: Wäre nun nicht auch bei Geraden möglich, was bei jenen Linien vorkommt? (Proklos 1945, 302).

Man vergleiche auch das folgende Zitat von Proklos 1945, 288:

Es ist das das unwahrscheinlichste Theorem in der Geometrie, das eine Zuneigung gewisser Linien zeigt, die nie in ein Zusammenlaufen übergeht. Von den Linien aber, die stets den gleichen Abstand wahren, sind die Geraden, die ihren Abstand nie verringern, und in der Ebene liegen, Parallelen.


Mit Proklos (spätestens) wird das Grundproblem der Parallelentheorie deutlich:

Ist das PP ein beweisbarer Satz der absoluten Geometrie oder nicht?

Dabei ist keineswegs klar, wie man diese Frage im Falle, dass die Antwort negativ ausfallen sollte, überhaupt klären könnte. Im positiven Fall hingegen muß man "nur" einen stichhaltigen Beweis finden, der keine anderen Hilfsmittel als die der absoluten Geometrie verwendet.


Proklos erwähnt auch, dass Poseidonios (ca. 135 - 51 v. Chr.) vorgeschlagen habe, die Euklidische Definition des Begriffes parallel durch die folgende zu ersetzen: Zwei Geraden in einer Ebene, welche in allen Punkten den selben Abstand haben (definiert über die Länge des Lotes), heißen parallel: Poseidonios sagt aber, parallel sind die Geraden, die in einer Ebene sich weder nähern noch entfernen, sondern alle Senkrechten gleichhaben, die von den Punkten der einen zur anderen gezogen werden. (Proklos 1945, 287)

Nun liegt es auf der Hand, dass sich zwei derartige Geraden nicht schneiden können, weshalb Parallelen im Sinne von Poseidonios immer auch Parallelen im Sinne Euklids sein müssen. Auch die Umkehrung gilt bei Voraussetzung von PP: Sind g und h die fraglichen Poseidonios-Parallelen, so nehme man auf g zwei beliebige Punkte P und P' und fälle von diesen das Lot auf h; die Lotfußpunkte seinen L und L'. Dann sind nach I28 die Lote parallel und nach I29,a die Wechselwinkel PP'L und P'LL' sowie PLP' und LP'L' kongruent, woraus sofort folgt, dass die beiden Dreiecke, die entstehen, wenn man den einen Lotfußpunkt, etwa L, mit dem nicht zu ihm gehörigen Punkt P' auf g verbindet, kongruent sind. Folglich sind die Lote gleich lang.

Die Frage, die sich stellt, ist aber die folgende: Gibt es auch ohne Voraussetzung von PP Parallelen im Sinne von Poseidonios? Es liegt nahe, eine Gerade zu nehmen nebst derjenigen Linie, auf der alle in einer Halbebenen bezüglich dieser Geraden gelegenen Punkte mit ein und demselben Abstand liegen. Diese Linie heißt Abstandslinie und unsere Frage modifiziert sich zu: Sind Abstandslinien Geraden auch, wenn PP nicht gilt?

Der gerade ausgeführte Bewies deutet darauf hin, dass die Existenz von Rechtecken für die Parallelenfrage eine wichtige Rolle spielt. Das werden wir später im Zusammenhang mit Saccheri noch genauer sehen.

Poseidonios war anscheinend der Meinung, dass aus seiner Definition (einmal unterstellt, dass Abstandlinien auch ohne PP Geraden wären), die Aussage des PP folge: Diejenigen [Geraden], die immer kleinere Senkrechten bilden, laufen zusammen; ... Sind daher die Senkrechten gleich. so sind auch die Abstände der Geraden gleich; werden sie aber größer oder kleiner, so vermindert sich auch der Abstand, und sie laufen auf der Seite zusammen, wo die Senkrechten kürzer sind. (Proklos 1945, 287)

Aber schon Proklos weist u.a. unter Hinweis auf die Existenz von Asymptoten darauf hin, dass dies nicht unmittelbar klar ist: Man muß aber wissen, dass die Eigenschaft des Zusammenlaufens die Linien nicht unbedingt parallel macht. (Proklos 1945, 288)


Etwas genauer kann man als Basis von Poseidonios' Zugang das folgende Prinzip formulieren (Postulat von Poseidonios): Zwei Geraden, welche sich nicht schneiden, sind äquidistant. Aus diesem Prinzip folgt sofort PP, wie man folgendermaßen einsehen kann:

Gilt das Postulat von Poseidonios, so kann es zu einer Geraden durch einen Punkt, welcher nicht auf dieser Geraden liegt, höchstens eine Parallele geben.

Beweis: Angenommen, es gäbe durch P zwei Parallelen zu g. Bezeichnet L den Lotfußpunkt des Lotes von P auf g, so nehme man auf derjenigen Parallelen, welche in der entsprechenden Halbebene höher liegt, einen Punkt, sagen wir E, und fälle von diesem das Lot auf g. Heißt der entsprechende Lotfußpunkt auf g L' und der Schnittpunkt des Lotes mit der anderen Parallelen F, so müßte EL' = PL und FL' = PL gelten. Da E und F kollinear sind und in der selben Halbgeraden bezüglich L' liegen, müßten sie wegen EL' = FL' zusammenfallen. Das ist aber ein Widerspruch zur Annahme, dass die Parallelen verschieden seien, da diese schon den Punkt P nach Konstruktion gemeinsam haben.

Weiter folgt: Sind zwei Geraden AB und CD gegeben sowie eine Transversale EF und gilt zusätzlich für die Summe der Innenwinkel + < 2R, so schneiden sich AB und CD auf der Seite der Geraden EF, auf der die beiden genannten Winkel liegen.


Beweis: Trage den Winkel CFE in E an, so dass der freie Schenkel EG in EFB+ zu liegen kommt. Weiter verlängere man diesen zur Geraden HG. Eine einfache Rechnung zeigt nun, dass dann FEG > FEB sein muss. Also sind die Geraden AB und HG verschieden.

Nach I,27 ist dann HG parallel zu CD. Andererseits gibt es nach 1) höchstens eine Parallele durch E zu CD. Folglich muss AB die Gerade CD schneiden.

Dieser Schnittpunkt muss aber in der Halbebene EFB+ liegen: Läge er in der Halbebene EFB-, so entstände ein Dreieck, in dem zwei Winkel (nämlich die Nebenwinkel ' und ') zusammen größer als zwei Rechte wären. Das ist ein Widerspruch zu I,17. also unmöglich.


Ein ähnliches Argument findet sich bei Proklos im Zusammenhang mit dem Axiom von Aristoteles (siehe unten).


Insgesamt haben wir damit gesehen, dass das Postulat von Poseidonios modulo absoluter Geometrie dem PP äquivalent ist. Der entscheidende Punkt, den sein Urheber nicht gesehen hat, ist aber, dass es sich tatsächlich um ein Postulat handelt, das man voraussetzen muss. Das Verdienst, dies erkannt und ausgesprochen zu haben, kommt wohl Christoph Clavius (1537-1612) zu (vgl. Hartshorne 2000, 298).


Schließlich sei noch ein letzter Beweisversuch für das Parallelenpostulat erwähnt, der sich bei Proklos findet (vgl. Proklos 1945, 424-426). Ausgangspunkt ist dabei ein Axiom, dessen auch Aristoteles beim Beweis der Endlichkeit der Welt sich bediente (Proklos 1945, 425), und das sich dort (in der Schrift „Vom Himmel“ des Aristoteles) folgendermaßen liest:

Bei unbegrenzten Linien sind die Zwischenräume unbegrenzt. Zwischenräume bei Linien nenne ich jenen Raum, außerhalb dessen keine Größe zu finden ist, die die Linien berührt. Dieser Zwischenraum muss also unbegrenzt sein; denn bei begrenzten Linien ist er immer begrenzt. Man wird auch immer einen größeren Zwischenraum als den gegebenen annehmen können; ebenso wie wir von einer unbegrenzten Zahl sprechen, weil es keine größte gibt, in derselben Weise sprechen wir von Zwischenraum. („Vom Himmel“ I 271 b25 – I 272 b16; entspricht Aristoteles 1950, 66)

Der Begriff „Zwischenraum“ entspricht in heutiger Terminologie dem Winkelfeld eines spitzen Winkels. Die Forderung der Unbegrenztheit eines Winkelfeldes bedeutet im wesentlichen, dass die beiden Schenkel des spitzen Winkels sich unbeschränkt voneinander entfernen. Genauer können wir das so ausdrücken: Ist BAC ein spitzer Winkel und DE eine vorgegebene Strecke, so gibt es auf AB+ stets einen Punkt F, so dass das Lot FL von F auf AC+ länger ist als die vorgegebene Strecke DE:

Gestützt auf das oben zitierte Axiom des Aristoteles beweist nun Proklos folgendes Lemma: Wenn eine Gerade eine von parallelen Geraden schneidet, schneidet sie auch die andere (Proklos 1945, 425). Der Beweis wird von Proklos so geführt: Es seien die Parallelen AB und CD, und EFG schneide AB. Dann behaupte ich, dass sie auch CD schneidet.

Denn da BF und FG zwei Gerade sind, die von einem Punkte F ins Unendliche verlaufen, so haben sie einen größeren Abstand als jede andere Größe, also auch einen größeren als der Abstand der Parallelen beträgt. Wennn sie demnach weiter voneinander abstehen, als der Abstand der Paralelen beträgt, so wird FG auch CD schneiden. (Proklos 1945, 425)

Sensibilisiert durch unsere obigen Betrachtungen fällt uns auf, dass der Beweis des Lemmas von Proklos darauf beruht, dass Parallelen äquidistant sind. Denn es wird ja folgendermaßen geschlossen: Der Abstand FL der Parallelen im Schnittpunkt F wird irgendwann einmal übertroffen -das heisst, es gibt auf dem Schenkel FG+ einen Punkt F, so dass das Lot FL von F auf FB+ größer ist als die vorgegebene Strecke FL. Ist nun der Abstand der Parallelen im Punkte F gleich FL, so liegt L bzgl. der Geraden CD in einer anderen Halbebene als F(und auch F). Folglich schneidet die Verbindungsstrecke FF die Gerade CD, was zu beweisen war.



Aus dem Lemma des Proklos ergibt sich die Aussage des Parallelenpostulats direkt. Sei folgende Grundsituation gegeben,


also BGH + DHG 2R. Nach I,27 konstruieren wir in G durch entsprechendes Antragen des Winkels GHD als Wechselwinkel eine Parallele KH zu CD. Da diese von AB in G geschnitten wird, folgt mit dem Lemma des Proklos, dass AB auch CD schneidet. Das war aber zu beweisen. Man muss sich nur noch davon überzeugen, dass AB nicht mit KH zusammenfallen kann. Das liegt daran, dass HGB = 2R (BGH + DHG) ist. Nach Voraussetzung ist diese Differenz aber positiv.


An dieser Stelle (S.425) betont Proklos, dass man zum Beweis des Parallelenpostulats ein anderes Axiom - hier dasjenige des Aristoteles- heranziehen müsse. Das scheint darauf hinzudeuten, dass er die Tatsache - welche für ihn natürlich unbeweisbar war- erkannt hatte, dass das Parallelenpostulat nur dann beweisbar wird, wenn man der absoluten Geometrie ein ihm äquivalentes Axiom hinzufügt. Jedoch gibt es andere Stellen (s. oben), wo Proklos im Brustton der Überzeugung von einem Beweis des Parallelenpostulats - vermutlich ohne zusätzliches Axiom - berichtet. Insgesamt bleibt seine Position unklar.

Allerdings liegt das wirkliche Problem (die Zirkularität des Beweises) nicht in dem Axiom des Aristoteles, sondern in der Äquidistanz der Parallelen, also im Lemma des Proklos. Letztere Eigenschaft ist in der Tat dem Parallelenpostulat äquivalent, während erstere von diesem nicht abhängt! Das Axiom des Aristoteles ist vielmehr eine Folge der Archimedizität (vgl. Hartshorne 2000, 324) von Strecken; folglich gilt es nicht in der im folgenden zu besprechenden sphärischen Geometrie.

Der Beweisversuch des Proklos wurde später unter anderem von G. Saccheri (vgl. Stäckel/Engel 1895, 75f; siehe auch Kapitel 4) und von G.S. Klügel (in seiner Dissertation (§III)) kritisch diskutiert.


Eine andere, ebenfalls verwendete Definition des Begriffes parallel ist die folgende: Zwei Geraden heißen parallel, wenn sie ein gemeinsames Lot besitzen.

Aus I,29 und damit aus PP ergibt sich sofort, dass zwei Geraden, welche im Sinne Euklids parallel sind, auch in diesem Sinne parallel sind. Nach I,17 folgt hiervon auch leicht die Umkehrung: Zwei Geraden mit gemeinsamem Lot können sich nicht schneiden. Wäre das nämlich der Fall, so entstände ein Dreieck mit zwei rechten Innenwinkeln.

Somit kann man sagen, dass diese beiden Definitionen unter Voraussetzung des PP äquivalent sind. Ohne PP sind die Begriffsbildungen nicht mehr äquivalent (s. unten in Kapitel 5), weshalb man auch so keine wirkliche Lösung das Problems erhält.


Der Kommentar des Proklos hat später die Diskussion um das PP im neuzeitlichen Europa initiiert. Die erste gedruckte Edition des Werkes von Proklos (in griechischer Sprache) erschien 1533 als Anhang zur Ausgabe der Elemente des Euklid, welche Simon Grynaeus 1533 in Basel veranstaltete. Die Ausgabe der Elemente von Grynaeus war außerordentlich einflussreich, weshalb sie allgemein als editio princeps bezeichnet wird. Eine lateinische Übersetzung des Kommentars von Proklos veröffentlichte dann 1560 Barocius.

Grynaeus war übrigens eine Zeit lang Professor (1524 - 29; für Latein, ab 1526 auch für Griechisch) in Heidelberg gewesen, bevor er nach Basel ging, wo er Nachfolger des Erasmus von Rotterdam wurde.



3 Sphärische Geometrie - eine Alternative?


Es soll hier weder eine ausführliche Geschichte (vgl. hierzu von Braunmühl 1900 und Rosenfeld 1988) noch eine systematische Darstellung der sphärischen Geometrie präsentiert werden (vgl. hierzu Filler 1993). Wir müssen uns mit einigen Andeutungen begnügen, die für unseren Gesamtzusammenhang von Bedeutung sind.

Die antike Naturphilosophie kannte zwei natürlich Bewegungsarten: die geradlinige und die kreisförmige. Erstere, paradigmatisch verkörpert im freien Fall, ist für irdische (oder sublunare) Verhältnisse charakteristisch, letztere für die himmlischen. Die Planeten (wozu damals auch Sonne und Mond gerechnet wurden) bewegten sich nach antiker Vorstellung in Kreisbahnen auf Kugeln um die Erde, welche ursprünglich sowohl im Kugel- als auch im Kreismittelpunkt gedacht wurde. Wollte man mathematische, insbesondere geometrische Astronomie betreiben, (letztere war eine genuin neue Idee der Griechen. Zuvor gab es, vor allem bei den Babyloniern, lediglich eine rechnende Astronomie, was natürlich nicht heißen soll, diese habe nicht einen beachtlichen Entwicklungsstand erreicht.), so musste man sich mit den Verhältnissen auf der Kugeloberfläche, der Sphäre, auseinandersetzen. Das ist der Ursprung der sphärischen Geometrie.

Wichtig ist, dass die Bezeichnung sphärische Geometrie erst im letzten Jahrhundert aufgekommen ist; vorher sprach man schlicht von Sphärik. Die klassischen Werke von Theodosius (ca. 2.-1. Jahrh. v. Chr.), Menelaos (ca. 100 n. Chr.) und Ptolemaios trugen den Titel Sphaerika; das älteste überlieferte Werk zum Thema mit dem Titel Über die rotierende Kugel stammt von Autolikos (ca. 5. Jahrh. v. Chr.). Eine terminologische Beziehung zur Euklidischen Geometrie wurde somit - und das war wohl kein Zufall - nicht hergestellt.

Auch methodisch gesehen unterschied sich die sphärische Geometrie stark von der Geometrie Euklids und zwar vor allem durch die Dominanz rechnender Verfahren. Sie war in erster Linie Wegbereiter der Trigonometrie, was soweit ging, dass ebene Trigonometrie bis gegen 1600 fast gar nicht betrieben wurde (Pitiscus, De solutione Triangulorum tractatus brevis, 1595; der übrigens auch diesen Begriff prägte).

Die sphärische Geometrie setzt die euklidische Geometrie des Raumes, in den die Sphäre (der Einfachheit halber nehmen wir die Einheitssphäre) eingebettet ist, voraus.

Punkte (S-Punkte) sind die Punkte auf der Einheitssphäre;

Geraden (S-Geraden) sind Großkreisbögen.

Je zwei nicht identische und nicht diametrale S-Punkte legen genau einen Großkreis fest (warum?); insofern ist das entsprechende Inzidenzaxiom (modern gesprochen; bei Euklid entspricht dem das Postulat 1 nebst Axiom 9, das Eindeutigkeit garantiert) erfüllt. Für Paare von Diametralpunkten erleidet es aber Ausnahmen. Als Verbindungsstrecke zweier nicht identischer, nicht diametraler Punkte wird der kürzere Großkreisbogen zwischen denselben genommen. Die Länge solcher Verbindungsstrecken ist dabei im Sinne der euklidischen Geometrie zu nehmen, wobei man als Maß der Länge meist den zum Großkreisbogen gehörige Zentriwinkel, gemessen im Bogenmaß, heranzieht. Somit ist die Streckenlänge in der sphärischen Geometrie auf der Einheitssphäre (im allgemeinen Fall kommt noch der Kugelradius R als Faktor hinzu) nach oben durch beschränkt; die Geraden sind alle 2 lang.

Den Abstand zweier S-Punkte, welche nicht diametral sind, kann man nun als Länge ihrer Verbindungsstrecke definieren. Für zwei S-Punkte, die diametral sind, wird der Abstand sinnvollerweise auf festgesetzt. Damit verfügt man über die Grundbausteine für eine allerdings nicht in jeglicher Hinsicht mit der euklidischen identischen Inzidenz- und Abstandsgeometrie. Zu beachten ist, dass die Abstandsfunktion nicht immer additiv ist: Nimmt man auf einer S-Geraden zwei Punkte A und B, welche (2/3) voneinander entfernt sind, und nimmt man weiter C A, das von B wiederum (2/3) entfernt, so beträgt dennoch die Entfernung von A nach C nur (2/3). Dieses Phänomen hängt natürlich eng mit der zyklischen Ordnung zusammen.

Man überlegt sich weiter leicht, dass sich zwei nicht identische S-Geraden stets in zwei Punkten - nämlich einem Diametralpunktepaar - schneiden (warum?). Damit ist klar, dass es in der S-Geometrie überhaupt keine Parallelen gibt, was deren Relevanz für unser Thema erklärt!

Schließlich sind an Grundbegriffen noch die S-Winkel bereitzustellen. Unter dem S-Winkel zweier S-Geraden versteht man den euklidischen Winkel zwischen den beiden, durch die S-Geraden eindeutig bestimmten Ebenen des umgebenden Raumes. Nimmt man eine S-Gerade und betrachtet alle S-Geraden, welche auf dieser senkrecht stehen, so erkennt man leicht, dass diese ausnahmslos durch zwei S-Punkte gehen. Diese S-Punkte nennt man die Pole der Polaren, welche die vorgegebene S-Gerade ist (stellt man sich die Polare als Äquator vor, so entsprechen die Pole den gewöhnlichen Polen). [Vorsicht: In älteren Quellen, z.B. Menelaos, ist Pol synonym mit „sphärischer Mittelpunkt eines sphärischen Kreises“. Somit ist der Pol in der heutigen Terminologie ein Sonderfall in dem Sinne, dass der sphärische Kreis ein Großkreis ist.] Im Falle von Pol und Polare ist das Lotfällen nicht mehr eindeutig. Weiter sieht man, dass man in der sphärischen Geometrie einfach Dreiecke herstellen kann, deren Winkelsumme größer als 2R ist. Nimmt man etwa den Nordpol und in ihm einen Winkel gleich R, so schneiden die Schenkel dieses Winkels den Äquator in zwei Punkten, wobei wieder rechte Winkel entstehen (der Nordpol ist ja ein Pol des Äquators). Folglich erhält man ein S-Dreieck mit drei rechten Winkeln, wobei die Außenwinkel am Äquator wieder Rechte sind. Somit gilt selbst der schwache Außenwinkelsatz in der S-Geometrie nicht. Erinnert man sich an Euklids Beweis für diesen Satz (I,16), so ist dies nicht erstaunlich, da darin verwendet wurde, dass man jede Strecke verdoppeln kann. Das ist aber in der S-Geometrie nur möglich, wenn die Länge der zu verdoppelnden Strecke kleiner als /2 ist.

In der sphärischen Geometrie gilt statt dessen folgende Form des Außenwinkelsatzes (Menelaos I. Buch, Satz 10):

Wenn zwei Seiten einer dreiseitigen Figur kleiner als ein Halbkreis sind, so ist der Außenwinkel, der an die Seite grenzt, größer als der ihm gegenüberliegende Innenwinkel von den beiden Winkeln, die an der verbleibenden Seite liegen, und wenn die beiden Seiten größer als ein Halbkreis sind, so ist der Außenwinkel kleiner als der ihm gegenüberliegende Innenwinkel, und wenn die beiden Seiten einem Halbkreis gleich sind, so ist der Außenwinkel gleich dem ihm gegenüberliegenden Innenwinkel. (Menelaos 1936, 128f)

Dabei verwendet Menelaos folgende Definitionen für die verwendeten Begriffe:

  1. Diejenige der Figuren, auf der Oberfläche einer Kugel, die ich dreiseitig nenne, ist die, welche drei Bogen von Großkreisen einschließen, wobei jeder Bogen kleiner als ein Halbkreis ist.

  2. Ihre Winkel sind die, welche jene Bogen einschließen, damit sich dieselbe dreieckige Fläche ergebe und die genannten Bogen sie einschließen.

  3. Die Winkel, die ich gleiche Winkel, die Großkreisbogen einschließen, nenn, sind die, bei denen die Bogen der Neigung ihrer Halbkreise einander gleich sind, ... . (Menelaos 1936, 118f)


Der Außenwinkel ist hier DBC. Er wird verglichen mit dem Innenwinkel BAC. Wie diese Beziehung aussieht, hängt von den Seiten AC und BC des sphärischen Dreiecks ab.

Ist ACBC Halbkreis (), so ist der Innenwinkel

kleiner als der Außenwinkel.

Ist ACBC Halbkreis (), so ist der Innenwinkel

gleich dem Außenwinkel.

Ist ACBC Halbkreis (), so ist der Innenwinkel

größer als der Außenwinkel.

Diesen Sachverhalt kann man sich leicht an dem oben erwähnten S-Dreieck mit dem Nordpol N und zwei Punkten auf dem Äquator als Ecken klar machen: Der Winkel bei N steuert die Länge des Äquatorbogens zwischen den beiden anderen Ecken, während der Außenwinkel immer ein rechter ist.

Menelaos bewies seinen Außenwinkelsatz mit Hilfe der folgenden, auch in der sphärischen Geometrie geltenden Beziehung: Dem größeren Winkel im Dreieck liegt der größere Winkel gegenüber und umgekehrt. (Menelaos I.Buch, Sätze 8 und 9; Euklid I,18 und I,19). Hierzu zieht man die Großkreisbögen AC und AB bis zum Gegenpunkt A* von A durch. Man erhält ein Zweieck AA*, bei dem natürlich die Winkel bei A und A* gleich groß sind.

Aus Satz 10 folgt relativ einfach, dass die Winkelsumme im S-Dreieck stets größer als zwei Rechte ist. (Menelaos I.Buch, Satz 11).


Die vielleicht gravierendsten Unterschiede zur traditionellen Geometrie ergeben sich aber bezüglich der Anordnung: Drei S-Punkte auf einer S-Gerade liegen so, dass man von jedem sagen kann, er befinde zwischen den beiden anderen. Das liegt daran, dass die S-Geraden geschlossen sind. Um in der S-Geometrie eine Anordnung zu erklären, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder man betrachtet immer Quadrupel von Punkten und erklärt die Relation zwei Punkte trennen zwei Punkte (vgl. hierzu das Buch von Efimov, N. W.: Höhere Geometrie II (Braunschweig - Basel, 1970), Kap. V, §§ 3 und 4) oder aber man führt für drei Punkte den Begriff der zyklischen Ordnung ein (vgl. Filler 1993, 140).

Hinsichtlich der Kongruenzgeometrie gibt es einige Unterschiede im Vergleich zur euklidischen Geometrie: Der markanteste ist, dass in der sphärischen Geometrie der Kongruenzsatz WWW gilt. Anders ausgedrückt - und damit sind wir wieder bei unserem Thema - gibt es keine ähnlichen nicht kongruenten Dreiecke. Schon bei Menelaos finden sich die Kongruenzsätze der sphärischen Geometrie fast vollständig.

Will man die Kongruenz über Abbildungen definieren, so muß man die Bewegungen der S-Geometrie angeben. Es sind dies die Spiegelungen an S-Geraden und die Drehungen um diametrale Punktepaare (zu den naheliegenden Definitionen dieser Begriffe vgl. man Filler 1993, 11). Insbesondere ist die Vertauschung der Diametralpunkte eine Bewegung. (Warum?) Einen alternaitven Zugang zu den Kongruenzsätzen liefert die sphärische Trigonometrie (vgl. etwa Filler 1993, 27-32).



Der Flächeninhalt des sphärischen Dreiecks


Als Vorbereitung betrachten wir S-Zweiecke, also jene vier Teilflächen der Kugeloberfläche, welche von zwei S-Geraden begrenzt werden, die sich notwendig in einem Diametralpunktepaar schneiden.

Setzt man das Maß des Flächeninhaltes der Einheitssphäre mit 4 an, so kann man beweisen, dass das Flächenmaß eines S-Zweiecks mit dem Winkel gleich 2 ist (wobei der S-Winkel im Bogenmaß zu nehmen ist - eine Voraussetzung, die wir im weiteren, wenn es um das Flächenmaß geht, stets machen wollen). Ist =(mn)2, so folgt dies einfach aus der Additivität des Flächeninhaltes; im allgemeinen Fall bedarf es jedoch eines Grenzübergangs (vgl. Filler 1993, 13f).


Die Existenz von S-Zweiecken macht einen weiteren wichtigen Unterschied zur euklidischen Geometrie deutlich; sie steht ja in unmittelbarem Widerspruch zum 9. Axiom (Zwei Geraden schließen keinen Flächenraum ein.) Dies mag mit ein Grund gewesen sein, warum man die Sphärik solange nicht als Geometrie im eigentlichen Sinne des Wortes angesehen hat.


Im weiteren betrachten wir S-Dreiecke; als solche wollen wir nur jene von drei S-Geraden begrenzten Teilflächen der Sphäre betrachten, deren Kanten und Winkel sämtlich kleiner als sind. Sie werden auch als Eulersche Dreiecke bezeichnet und wurden erstmals systematisch von Menelaos untersucht. Eulersche oder S-Dreiecke sind dadurch gekennzeichnet, dass sie ganz in einer Hemisphäre liegen, also kein Diametralpunktepaar enthalten können. [Allgemeinere sphärische Dreiecke heißen Möbiussche Dreiecke: So ist beispielsweise das Komplement eines Eulerschen Dreiecks stets eines im Sinne von Möbius!] Die Kanten eines S-Dreiecks sind S-Strecken in dem eingangs erwähnten Sinne.

Sei also ABC ein S-Dreieck. Bei Verlängerung der S-Strecken AB, AC und BC schneiden sich diese in den Diametralpunkten der Eckpunkte des S-Dreiecks A*, B* und C* (* bedeute: Diametralpunkt). Das dem Ausgangsdreieck kongruente S-Dreieck A*B*C* wird als Gegendreieck bezeichnet. Weiter erhält man sechs weitere S-Dreiecke(!), von denen drei mit dem Ausgangsdreieck eine gemeinsame Kante haben, weshalb sie Nebendreiecke genannt werden. Es sind dies die S-Dreiecke ABC*, AB*C und A*BC. Schließlich entstehen noch drei S-Dreiecke, die mit ABC eine Ecke gemeinsam haben: Das sind die Scheiteldreiecke AB*C*, A*BC* und A*B*C. Je ein Scheitel- und ein Nebendreieck sind kongruent, da sie Gegendreiecke sind ((ABC*)* = A*B*C** = A*B*C, da * involutorisch).



Offensichtlich wird die Kugelfläche von diesen acht S-Dreiecken vollständig überdeckt. Bezeichnet F den Flächeninhalt des Ausgangsdreiecks ABC (und natürlich seines Gegendreiecks A*B*C*), F1 denjenigen von A*BC (und von AB*C*), F2 denjenigen von AB*C und von A*BC* und schließlich F3 denjenigen von ABC* und von A*B*C, so gilt:

2(F + F1 + F2 + F3) = 4

Nimmt man andererseits das S-Dreieck ABC und eines seiner Nebendreiecke zusammen längs der gemeinsamen Kante, etwa ABC*, so entsteht ein S-Zweieck (hier: C*C), in unserem Beispiel mit dem Winkel .

Dessen Flächenmaß ist, wie oben gezeigt, 2. Somit ist F + F1 = 2. Analog erhält man die Beziehungen F + F2 = 2 und F + F3 = 2. Zusammengefaßt liefert dies:

3F + F1 + F2 + F3 = 2( + + )

Wegen F + F1 + F2 + F3 = 2 (siehe oben) erhält man damit das Endergebnis

F = ( + + ) -

Die Größe auf der rechten Seite wird Exzeß des S-Dreeicks genannt; er gibt an, um wieviel die Winkelsumme des S-Dreiecks diejenige der euklidischen Geometrie übertrifft; er liegt zwischen 0 und 2.


Bemerkung: 1)Der angeführte Beweis stammt von Euler (De mensura angulorum solidorum = Opera I,26; 204 - 223). Erstmals angegeben wurde die Formel für das Flächenmaß des S-Dreiecks von A. Girard (Invention nouvelle en l'algèbre [Leiden, 1629]), allerdings mit einem nicht ausreichenden Beweis. Den ersten Beweis gab Cavalieri drei Jahre später (Directorium generale uranometricum [Bologna, 1632]). Er findet sich in dem in vielerlei Hinsicht empfehlenswerten Buch Baltzer, 1867,169f. Der Beweis Cavalieris beruht darauf, dass man nicht die ganze Kugel, sondern nur die Halbkugel überdeckt.

2) Es gilt also: Zwei S-Dreiecke, welche gleiche Winkel besitzen, sind flächengleich. Das erklärt wiederum das Fehlen einer Ähnlichkeitsgeometrie in der sphärischen Geometrie!

3) Man kann den Beweis auf den Fall Möbiusscher Dreiecke erweitern, indem man diese in Eulersche zerlegt.

4) Für die Fläche eines S-Dreiecks gibt es eine Obergrenze, nämlich 2 (für Möbiussche 4). Hieraus folgt insbesondere erstens, dass man Dreiecke nicht unbeschränkt aneinanderfügen kann, und zweitens, dass es beispielsweise Vierecke gibt, zu denen man kein flächeninhaltsgleiches Dreieck angeben kann. Das hat gewisse Konsequenzen für die Theorie der Zerlegungsgleichheit (Multikongruenz) als Grundlage der Lehre vom Flächeninhalt (vgl. Dehn, M.: Über den Inhalt sphärischer Dreiecke (Mathematische Annalen 60 (1905), 166 - 174)).

5) Für S-Vierecke ergibt sich durch Zerlegen in zwei S-Dreieck das Flächenmaß ( + + + ) - 2.


Insgesamt zeigt also die sphärische Geometrie mehrere Eigenschaften, die es erlauben, sie mit Fug und Recht als nichteuklidische Geometrie zu bezeichnen: Es gibt keine Parallelen, keine Ähnlichkeitsgeometrie und die Winkelsumme im S-Dreieck übersteigt 2R. Allerdings zwingt einem niemand, die S-Geometrie wirklich als eine eigenständige Geometrie zu sehen, denn man kann ja stets anstelle von S-Geraden von Großkreisbögen etc. reden, das heißt, man kann sie stets als ein Teilgebiet der euklidschen Geometrie des Raumes betrachten (als solches ist die sphärische Geometrie übrigens unabhängig von PP, wie wohl als erster Lobatschewski bemerkte). Das war der Standpunkt bis ins 19. Jh. hinein. So heißt es beispielsweise noch im 4. Teil des Klügelschen Wörterbuchs (verfasst von Mollweide, 1823)): Spärik, Sphaerica, ist der Inbegriff von Lehrsätzen, die Kugel betreffend, insbesondere über die Kreise, die auf ihrer Oberfläche gezogen werden. Die Berechnung der sphärischen Dreiecke gehört in die Trigonometrie. Erst wenn man eine abstraktere Sichtweise einnimmt und Geraden vermöge axiomatisch gefasster Eigenschaften charakterisiert und nicht mehr durch ihre anschauliche Bedeutung, die ja „krumme Geraden“ auszuschließen scheint, wird man Großkreisbögen S-Geraden nennen. Eine wichtige Rolle in dieser Hinsicht dürfte die Differentialgeometrie gespielt habe (Gauß, 1827), welche Geradenstücke als kürzeste Verbindungen zu fassen erlaubte (eine Idee, die in nicht sehr präziser Weise natürlich schon lange herumspukte - vgl. etwa Legendre's Eléments de géométrie [Paris, 1794]). Da Großkreisbögen kürzeste Verbindungen sind, wie man mit etwas Variationsrechnung beweisen kann, darf man sie dann wirklich als S-Geradenstücke bezeichnen! Ein weiteres „epistemisches Hindernis“ könnte darin gelegen haben, dass die sphärische Geometrie ja als Teilgeometrie der Geometrie des Euklidischen Raumes aufgebaut wurde: Wie kann ein Teil dem Ganzen gleichberechtigt zur Seite treten?

Recht fortgeschrittene Ideen bezüglich der sphärischen Geometrie hatte J. H. Lambert (vgl. 4.2.2); Analogien zwischen nichteuklidischer und sphärischer Geometrie spielten darüber hinaus bei N. Lobatschewski eine gewisse Rolle (vgl. 5).



Einige Bemerkungen zu Menelaos' Sphärik


(Quelle: Heath II, 261 - 273; dt. Ausgabe: Krause, M.: Die Sphärik von Menelaos aus Alexandrien in der Verbesserung von Abu Nasr Mansur b. Ali b. Iraq mit Untersuchungen zur Geschichte des Textes bei den islamischen Mathematikern. Abhandlungen der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. Phil. - Hist. Klasse, 3. Serie, No. 17 (1936); Nachdruck Frankfurt a. M. 1998 durch das Institute for the History of Arabic-Islamic Sciences.)


Das Werk des Menelaos dürfte um 100 n. Chr. entstanden sein.

Menelaos beweist unter anderem folgende Sätze:

§1) Konstruktion eines sphärischen Winkels, welcher gleich einem vorgegebenen ist.

§2) Gleichschenklige S-Dreiecke sind auch gleichwinklig (Euklid I,5).

§3) Gleichwinklige Dreiecke sind auch gleichschenklig (Euklid I,6).

§4a) Zwei S-Dreiecke sind kongruent, wenn sie in zwei Seiten und dem eingeschlossenen Winkel übereinstimmen (Euklid I,4).

§4b) Zwei S-Dreiecke sind kongruent, wenn sie in drei Seiten übereinstimmen (Euklid I,8).

...

§14) Kongruenzsatz WSW (Euklid I,26a)

§16) Kongruenzsatz SWW (Euklid I,26b)

§17) Kongruenzsatz WWW


Daneben gibt es wie oben bereits erwähnt Sätze über den Zusammenhang von Seiten und gegenüberliegenden Winkeln (Euklid I,18 und 19) und auch ein eingeschränktes Analogon zum schwachen Außenwinkelsatz (Euklid I,16).

Methodisch ist anzumerken, dass Menelaos nie mit Widerspruchsbeweisen arbeitet und dass er sich sichtlich um Einfachheit in der Argumentation - auch auf Kosten der Kürze und Eleganz - bemüht. Im Unterschied zu Euklid, der im ersten Buch nur selten Gebrauch von Kreisen macht (weshalb diese im modernen Aufbau dann ganz fehlen), verwendet Menelaos häufig sphärische Kreise (also Kleinkreise). Insgesamt hat man nicht den Eindruck, dass es Menelaos um einen autonomen Aufbau der sphärischen Geometrie gegangen ist.

Der erste Satz des dritten Teiles der Sphärik ist der bekannte Satz des Menelaos, der später eine wichtige Rolle in der sphärischen Trigonometrie spielen sollte (die „Regel von den sechs Größen“). In der ebenen Geometrie lautet er so:

CE/EA=CF/FC DB/BA

In der sphärischen Geometrie muss man die Sinusse der Bögen nehmen.



4 Einige Beweisversuche für das PP


Man kann in der Geschichte der Parallelentheorie verschiedene Phasen unterscheiden:

1) Klärung der Problemstellung, d.h. Formulierung des Grundproblems: Ist das PP unter der Voraussetzung der absoluten Geometrie ein beweisbarer Satz?

2) Phase der direkten Beweisversuche, d.h. Versuche einer direkten Herleitung des PP aus der absoluten Geometrie

3) Phase der indirekten Beweisversuche, d.h. Versuche einer Herleitung des PP durch Widerspruchsbeweis

4) Phase der (bewussten) Formulierung der nichteuklidischen

Geometrie

5) Phase der allgemeinen Anerkennung der innermathematischen Möglichkeit einer nichteuklidischen Geometrie im Sinne einer abstrakt-mathematischen Theorie

6) Phase der erkenntnistheoretischen Anerkennung der nichteuklidischen Geometrie


Diese Phasen folgen nicht zeitlich aufeinander, sondern koexistierten durchaus. Wir wollen uns nun mit einigen zur ersten Phase gehörigen Versuchen beschäftigten.


[Eine andere Einteilung geht auf Sohnke (1838) zurück. Dieser unterschied:

I. Erste Klasse der Versuche über Parallelentheorie, in welchen eine neue Definition von Parallellinien angewendet wird.

II. ..., in welchen eine neues von dem Euklidischen verschiedenes Axiom aufgestellt wird.

III. ..., welche durch ein eigenthümliches Raisonnement über die Natur der geraden Linie und der ebenen Winkel ausgezeichnet sind.

Zu beachten ist, dass Ludwig Adolf Sohnke (1807-1853, unter anderem Professor für Mathematik in Königsberg und Halle) noch nichts von der nichteuklidischen Geometrie wusste.]



4.1 Direkte Beweisversuche


Einer der ältesten, auch mathematisch interessanten Beweisversuche ist durch arabische Überlieferung (al [oder auch an] Narizi, übersetzt von Gerhard von Cremona) erhalten. Sein Ursprung liegt etwas im Dunkeln, weil al Narizi ihn Simplikios zuschreibt, der ihn wiederum einem gewissen Aganis zuschreibt, über den man so gut wie nichts weiß und den manche Forscher mit Geminos identifizieren. Es könnte auch sein, dass der Beweis letztlich auf Simplikios zurückgeht.

Im folgenden werde ich die Grundidee schildern, ohne Anspruch auf strikt originalgetreue Darstellung zu erheben.


Zu beweisen ist: Werden zwei Geraden von einer dritten Geraden so geschnitten, dass die beiden Schnittwinkel im Innern + < 2R sind, so schneiden sich die beiden Geraden auf der Seite, auf der diese Innenwinkel liegen. (Die Seite, auf der + > 2R ist, scheidet für die Existenz eines Schnittpunktes nach I,17 aus: Es entstände dann ja ein Dreieck, mit Innenwinkeln, welche zusammen größer als zwei Rechte sind.) Es ist klar, dass man o.B.d.A. = R annehmen darf.


Beweis von Simplikios - Aganis: Wir gehen von der abgebildeten Situation aus und tragen auf der Halbgeraden BC+ von B aus eine Strecke beliebigerLänge ab. Deren Endpunkt heiße E. Von E fälle man das Lot auf AB; der Lotfußpunkt sei L. Nun trage man von E aus die fragliche Strecke wieder auf der Halbgeraden EC+ ab, erhalte einen neuen Endpunkt E', von dem aus man das Lot auf AB fällt mit Lotfußpunkt L'.

So fahre man fort, bis schließlich ein Lotfußpunkt L(n) auf der Halbgeraden BA+ außerhalb der Strecke AB zu liegen kommt; er liegt also oberhalb von B in der nachfolgenden Zeichnung:


Nun betrachte man das Dreieck BE(n)L(n). Die Gerade, auf der die Halbgerade AD+ liegt, tritt in dieses Dreieck ein (nämlich in A), muß es also auch wieder verlassen. Der Punkt, in dem dies geschieht, sei S. Dann kann S nicht auf AB liegen, weil sonst zwei nicht-identische Geraden zwei Punkte gemeinsam hätten; er kann sich aber auch nicht auf E(n)L(n) befinden, weil sonst im Dreieck ASL(n) der Innenwinkel bei L(n) gleich dem Außenwinkel bei A wäre (beide Winkel sind rechte).

Also muß S ein Punkt der Halbgeraden BC+ sein, womit gezeigt ist, dass sich die beiden fraglichen Geraden schneiden müssen.


Analyse des Beweises von Simplikios - Aganis: In diesem Beweis werden zunächst einmal implizit zwei Axiome verwendet, welche zu damaliger Zeit mehr oder minder stillschweigend als geltend vorausgesetzt wurden: Zum einen das Axiom von Archimedes-Eudoxos, welches sicherstellt, dass man schließlich die Strecke AB übertreffen kann, zum andern das Axiom von Pasch, das garantiert, dass eine in ein Dreieck durch das Innere einer Seite eintretende Gerade dieses auch wieder verlässt. Üblicherweise rechnet man letzteres zur Gruppe der Anordnungsaxiome (im Aufbau von Filler ist es sogar ein beweisbarer Satz), während das Axiom von Archimedes-Eudoxos nach Hilbert zu den Stetigkeitsaxiomen gerechnet wird. Somit darf man festhalten, dass mit der Inanspruchnahme dieser Axiome der Rahmen der absoluten Geometrie [im Sinne unseres Systems; Hilbert sah das etwas anders] nicht überschritten wird!

Wo also liegt der Trugschluss? Um das Axiom von Archimedes-Eudoxos auf die Abschnitte auf der Strecke AB überhaupt anwenden zu können, muß man wissen, dass die Strecken BL, LL', L'L'', ... alle gleich lang sind. Dies sollte eine Folge der Tatsache sein, dass die Strecken BE, EE', E'E'', ... nach Konstruktion alle gleich lang und die Strecken E'L', E''L'', ... alle parallel sind (letzteres nach I,28). Es genügt, die Situation für zwei Strecken BE und EE' bzw. BL und LL' zu klären. Man erhält dann die abgebildete Situation, die einem natürlich sofort an den Strahlensatz erinnert. Allein hängt der Strahlensatz im Euklidischen Aufbau (er wird erst im Buch VI behandelt) von PP ab, womit eine Schwachstelle gefunden wäre. Dies ist aber noch keine definitive Widerlegung unseres Beweises, da ja nicht ausgeschlossen ist, dass man den Strahlensatz oder etwas ähnliches auch ohne PP beweisen könnte!

Es stellte sich aber in der Tat heraus, dass die oben formulierte Tatsache (BL = LL' für BE = EE' bei EL parallel E'L') äquivalent ist zum PP (W. H. Young: On a Form of the Parallel Axiom Quarterly Journal of Pure and Applied Mathematics 41 (1910), 353 - 363 - zitiert nach Gericke 1984, 210). Auf die Bedeutung dieser Aussage für den obigen Beweis des PP hat anscheinend als erster der arabische Mathematiker al Gauhari (9. Jh.) hingewiesen.


Fazit

1) Schwachpunkte in Pseudobeweisen zu finden, kann schwierig sein.

2) Der Nachweis, dass es sich tatsächlich um einen Schwachpunkt handelt, kann dann noch zusätzliche Probleme bereiten.

3) Eine wirkliche Klärung benötigt oft ein vollständiges Axiomensystem für die Geometrie, weil erst dann klar ist, was der Begriff absolute Geometrie meint.


Eine sehr interessante Variation dieser Beweisidee findet sich später bei den arabischen Mathematikern (bei Nasir ad Din at Tusi):


Hierzu fälle man von E das Lot auf E'L', von E' dasjenige auf E''L'' und so weiter. Die Lotfußpunkte mögen M' , M'', ... heißen. Dann enthalten die Vierecke ELL'M', E'L'L''M'', ... jeweils drei rechte Winkel. Wäre es nun so, dass jedes Viereck mit drei rechten Winkeln vier rechte Winkel hätte, also ein Rechteck wäre, so wäre wieder die Gleichheit der Strecken BL, LL', L'L'', ... nach den geläufigen Eigenschaften des Rechtecks garantiert - vorausgesetzt, man weiß, dass die Strecken EM', E'M'' usw. alle gleich lang sind. Allerdings haben wir ja schon gesehen, dass bei Euklid die Existenz von Rechtecken (allgemeiner: von Parallelogrammen, I,33) von PP abhängt. Es ist einfach, sich klarzumachen, dass die Existenz von Rechtecken äquivalent zum Winkelsummensatz im Dreieck ist: Die Diagonale zerlegt das Rechteck in zwei Dreiecke der Winkelsumme 2R (dies allerdings nur dann, wenn der 1. Legendresche Satz gilt, was aber in der absoluten Geometrie der Fall ist; zu den Sätzen von Legendre siehe 4.3). Folglich impliziert die Existenz eines Rechtecks diejenige zweier Dreiecke mit Winkelsumme 2R, was wiederum nach dem zweiten Legendreschen Satz dazu führt, dass alle Dreiecke diese Winkelsumme besitzen. [Zur Äquivalenz des Winkelsummensatzes mit PP siehe oben.].

So betrachtet, wird die Abhängigkeit von PP recht deutlich. Dreirechtwinklige Vierecke wurden von Ibn al Haitam (965 - 1041) und später von J. H. Lambert (1728 - 1777) betrachtet.

Daneben finden wir bei den Arabern auch schon das gleichschenklig zweirechtwinklige Viereck, das später bei G. Saccheri (vgl. 4.2) eine so wichtige Rolle spielen sollte. Dieses wurde von Omar e Chajjam (1048 - 1131), der vor allem als Dichter von Suren unter dem Namen Omar der Zeltmacher bekannt geblieben ist, betrachtet. Saccheri zeigte, dass man unter der Annahme der von ihm sogenannten „Hypothese der rechten Winkel“ - welche dem PP äquivalent ist - die Vorgehensweise von Simplikios-Aganis als korrekt nachweisen kann (I. Buch, 1. Teil, Satz XI).

Insgesamt kann man sagen, dass die Parallelentheorie bei den arabischen Mathematikern einen sehr hohen Entwicklungsstand erreichte, der noch keineswegs vollständig erforscht ist. Neben dem Buch von Rosenfeld (Rosenfeld 1988) sei hier auf eine Spezialmonographie verwiesen: Jaouiche, K.: La théorie des parallèles dans les pays d'Islam (Paris: Vrin, 1986).



Wir machen jetzt einen großen zeitlichen Sprung. Die Erkenntnisse der Araber zur Parallelenfrage wurden systematisch von dem bereits erwähnten Nasir ad Din at Tusi (1201 - 1274) gesammelt in seiner Epistel, welche alle Zweifel an den Parallelen beseitigt sowie in seiner Darlegung des Euklid. Letztere wurde 1594 in arabischer Sprache zu Rom gedruckt und rund hundert Jahre später von dem Oxforder Arabisten Pocock ins Lateinische übertragen. Dieses Unternehmen war von einem Kollegen Pococks, nämlich von John Wallis (1616-1703), einem der führenden Mathematiker jener Zeit und Lehrer Newtons, angeregt worden. Dieser hat 1693 die Übersetzung in seine Werke aufgenommen (vgl. Opera t.II, S. 669f, wo Wallis eine detaillierte Kritik am Beweis von at Tusi gibt).

Wallis selbst hatte sich bereits zuvor mit diesem Problem beschäftigt: Beweis der fünften Forderung Euklids, öffentlich vorgetragen in Oxford am Abend des 11. Juli 1663 (Opera t.II, S. 674-678; vgl. auch ebenda S. 665-673 für eine andere Arbeit von Wallis zum Parallelenproblem - eine kurze Analyse dieses Beweises gibt Klügel im Paragraphen VIIII seiner Dissertation). Auf den Ansatz Wallis' möchte nun noch etwas näher eingehen (vgl. Engel/Stäckel 1895, 21 - 30). Zuerst beweist Wallis mehrere Hilfssätze, die zum Teil ziemlich selbstverständlich sind. Ausgangspunkt ist die Situation, welche wir schon im Beweis von Simplikios-Aganis kennen gelernt haben (siehe Zeichnung).

Ähnlich wie schon bei den Arabern greift Wallis auf die kinematische Idee der Verschiebung zurück. Dabei ist seine Verteidigung der Verwendung von Bewegungen in der Geometrie ideengeschichtlich interessant (vgl. Stäckel/Engel 1895, 23).

[Im folgenden wurden griechische Buchstaben durch entsprechende lateinische mit Akzent ersetzt.]

1) Wird eine begrenzte Gerade, die auf einer unbegrenzten Geraden liegt, geradlinig verlängert, so liegt auch die Verlängerung auf dieser unbegrenzten Geraden.

2) Denkt man sich eine begrenzte Gerade, die auf einer unbegrenzten Geraden liegt, in ihrer Richtung beliebig weit fortbewegt, so bleibt sie bei dieser Bewegung stets auf derselben unbegrenzten Geraden.

3) Liegt eine begrenzte Gerade auf einer unbegrenzten Geraden, und bildet eine auf ihr stehende Gerade mit ihr einen Winkel, so bildet sie mit der unbegrenzten Geraden denselben Winkel.


  1. Es liege eine begrenzte Gerade auf einer unbegrenzten Geraden. Wird sie auf dieser geradlinig fortbewegt, und macht eine auf ihr stehende Gerade (ohne Änderung des Winkels) die Bewegung mit, so bildet sie mit jener unbegrenzten Geraden überall dieselben (oder gleiche) Winkel.


  1. Werden zwei Geraden von einer dritten geschnitten, und sind die inneren Winkel an derselben Seite zusammen kleiner als zwei Rechte, so ist jeder der beiden Außenwinkel größer als der ihm gegenüberliegende innere Winkel.


6) Wird unter denselben Voraussetzungen die zwischen AB und CD liegende Gerade AC geradlinig bis in die Lage A'C' bewegt, sodaß der Punkt A' mit C zusammenfällt, und gelangt zugleich AB (ohne Änderung des Winkels BAC) in die Lage A'B', so behaupte ich, dass die ganze Gerade A'B', das heißt, die bewegte Gerade AB, außerhalb DC fällt.

Der entscheidende Schritt ist Hilfssatz VII:

Unter denselben Voraussetzungen behaupte ich, dass die Gerade A'B', das heißt AB, bei ihrer Bewegung die Gerade CD schneidet, ehe der Punkt A' nach C gelangt.


Beweis: Da nämlich (nach Hilfssatz 6), sobald der Punkt A' nach C gelangt, die ganze Gerade A'B' die Gerade CD überschritten hat, so muß sie diesen Übergang entweder als Ganzes oder stückweise gemacht haben. Aber als Ganzes kann sie den Übergang nicht machen, sonst läge nämlich einmal die Gerade A'B' auf der Geraden CD, und der Winkel DCF deckte sich mit dem Winkel B'A'F, ein größerer mit einem kleineren, was unmöglich ist. Mithin geschieht der Übergang stückweise, das heißt, die Gerade A'B' schneidet einmal die Gerade CD, dann nämlich, wenn ein Teil von ihr den Übergang gemacht hat, aber noch nicht die ganze Gerade, und zwar (nach Hilfssatz 6), bevor der Punkt A' zum Punkte C gelangt ist. Was zu beweisen war.


Schließlich führt Wallis den folgenden Grundsatz ein:

8) Zu jeder beliebigen Figur gebe es stets eine andere ihr ähnliche von beliebiger Größe.

Mit dessen Hilfe kann er den eigentlichen Satz beweisen:

9) Werden zwei Geraden von einer dritten geschnitten, und sind die inneren Winkel an derselben Seite zusammen kleiner als zwei Rechte, so treffen die Geraden, ins Unendliche verlängert, einander auf der Seite, wo jene beiden Winkel liegen, die zusammen kleiner sind als zwei Rechte.


Der Kerngedanke des Beweises liegt in den folgenden Zeilen (zu den Bezeichnungen siehe Zeichnung):


Man denke sich nämlich die Gerade AC, die zwischen ihnen auf der unbegrenzten Geraden ECF liegt, auf dieser geradlinig bewegt. Die Gerade AB, die auf AC steht, mache die Bewegung ohne Änderung des Winkels BAC mit, bis A'B', das heißt, die bewegte Gerade AB, die Gerade CD (nach Hilfssatz 7) in einem Punkt P schneidet. Alsdann ist PCA' ein Dreieck, und es giebt (nach Hilfssatz 8) ähnliche Dreiecke von jeder beliebigen Größe. Man kann daher über der Geraden CA ein Dreieck zeichnen, das dem Dreieck PCA' mit der Grundlinie CA' ähnlich ist. Man denke sich das ausgeführt, und es sei PCA dieses Dreieck.

...

Da also PCA ein Dreieck ist, so treffen (nach der Erklärung des Dreiecks) die beiden Geraden CP und AP einander im Punkte P, und da das Dreieck PCA dem Dreieck PCA' (nach Konstruktion) ähnlich ist, so sind die einzelnen Winkel den einzelnen Winkeln der Reihe nach gleich (nach der Erklärung ähnlicher geradliniger Figuren). Mithin ist der Winkel PCA dem Winkel PCA', das heißt dem Winkel DCA gleich, und es liegt daher die Gerade CP in der Verlängerung der Geraden CD. Läge nämlich die Gerade CD jenseits oder diesseits, so wäre der Winkel PCA größer oder kleiner als der Winkel DCA, während doch ihre Gleichheit bewiesen wurde.

Weiter zeigt Wallis ganz analog, dass AP in der Verlängerung von AB liegt und CP auf der Verlängerung von CD. Er schließt:

Es treffen sich aber (wie schon gezeigt ist) AP und CP in dem Punkte P, also treffen sich auch die Verlängerungen von AB und CD, und zwar in eben diesem Punkte P, das heißt, auf der Seite der Geraden EAF, wo jene beiden Winkel liegen, die zusammen kleiner als zwei Rechte sind. Was zu beweisen war.


Der Beweis von Wallis ist relativ einfach und sehr einleuchtend. Sein Hauptverdienst ist aber, dass er klar ausspricht, auf welcher Voraussetzung (nämlich Prinzip 8) er beruht. Dieses wird von Wallis ausführlich kommentiert, um zum Schluß zu gelangen: In der That machen alle Geometer diese Annahme (ohne es ausdrücklich auszzsprechen oder vielleicht selbst zu bemerken), und darunter auch Euklid. (Engel/Stäckel 1895, 26). Wallis beruft sich bei seiner Behauptung auf das dritte Postulat bei Euklid (Dass man mit jedem Mittelpunkt und Abstand den Kreis zeichnen kann.), das er so interpretiert, als fordere Euklid die Existenz ähnlicher Kreise (alle Kreise sind ja euklidisch ähnlich) beliebiger Größe: Nun wäre es freilich kein billiges Verlangen, dass man (...) nach einem gegebenen Maaßstabe zu jeder Figur eine ähnliche solle zeichnen können. Aber dass es ausführbar ist, das darf man bei einer beliebigen Figur ebenso gut wie beim Kreise voraussetzen. (Stäckel/Engel 1895, 26). Hierzu schreibt Klügel in seiner Dissertation: Und es geht nicht an, dass sich einer auf Euklid berufen kann, der postuliert, dass durch gegebenen Mittelpunkt und Abstand ein Kreis beschrieben werden kann. Dies ist nämlich wegen der Einfachheit der Handlung klar genug, während bei der Konstruktion von ähnlichen Figuren sowohl proportionale Seiten als auch von jenen eingeschlossenen gleiche Winkel verlangt werden. Ob dies immer gleichzeitig erhalten werden kann, durchschaut man nicht so leicht. (Klügel §10). Lapidar lautet Klügels Urteil über Wallis: Was er aber bei anderen beklagt, dass sie weniger passende und ungewissere Axiome an die Stelle des euklidischen gesetzt haben, dies scheint er selbst nicht vermieden zu haben (§ 10). Auch G. Saccheri hat sich kritisch mit Wallis auseinandergesetzt (vgl. Stäckel/Engel 1895, 83-85). Er hatte allerdings im Unterschied zu Klügel (Georg Simon Klügel, geb. 1739 in Hamburg und gest. 1812 in Halle, studierte zunächst Theologie und dann Mathematik; von 1767-87 Professor in Helmstedt, danach in Halle) wenig an dem Beweis des Engländers auszusetzen.

Ergänzend sei angemerkt, dass in dem Buch Squaring the Circle. The War between Hobbes and Wallis von Douglas M. Jesseph (Chicago/London, 1999) interessante Informationen zu Wallis und seinem heftigen Streit mit dem Philosophen Thomas Hobbes zu finden sind.

Zum Schluss bemerken wir, dass es anscheinend einen engen Zusammenhang zwischen dem Euklidischen PP und der Ähnlichkeitsgeometrie gibt. Trennt man sich vom PP, so muß man vermutlich die Ähnlichkeitsgeometrie aufgeben!



Exkurs: Parallelentheorie und Ähnlichkeitsgeometrie


Bekanntlich kann man im Rahmen der Euklidischen Geometrie die Ähnlichkeitsgeometrie entwickeln, wie Euklid selbst das im sechsten Buch seiner Elemente tut. Zentral hierfür ist aus heutiger Sicht der Strahlensatz (in Frankreich: Satz des Thales), der in mehrfacher Hinsicht von PP abhängt, den man in Euklids Buch VI als Satz 2 in folgender Form findet:

§2: Zieht man in einem Dreieck parallel zu einer Seite eine gerade Linie, so teilt diese die Dreiecksseiten proportional; und wenn Dreiecksseiten proportional geteilt sind, dann muß die Verbindungsstrecke der Teilpunkte zur letzten Dreiecksseite parallel sein.

Fazit: Gilt PP, so gibt es ähnliche Dreiecke. Wie ist es umgekehrt? Angenommen, wir hätten zwei ähnliche Dreiecke ABC und DEF. O.B.d.A. dürfen wir annehmen, dass die Winkel einander in der Reihenfolge der Ecken entsprechen und dass AB > DE sowie AC > DF gilt. Dann können wir in ABC eine kongruenten Kopie D'E'F' des Dreiecks DEF so konstruieren, so dass D' auf A und FDE auf CAB fällt. Wir erhalten also folgende Situation:

Dann sind die Winkel AE'F' und ABC sowie AF'E' und ACB kongruent. Folglich sind die Geraden, auf denen die Strecken E'F' und BC liegen, parallel (nach I,28a). Weiter sind F'E'B und AE'F' sowie CF'E' und AF'E' Nebenwinkel. Folglich beträgt die Winkelsumme im Viereck E'F'CB genau 4R. Zieht man die Diagonale F'B, so erhält man zwei Dreiecke mit der Winkelsumme 2R. Allerdings braucht man, um dies einzusehen, den ersten Legendreschen Satz (siehe unten 4.3), der aber in der absoluten Geometrie gilt. Die Existenz eines Dreiecks mit der Winkelsumme 2R garantiert, wie bereits bemerkt, die Gültigkeit von PP (zweiter Legendrescher Satz). Wie wir bereits gesehen haben, ist der Winkelsummensatz seinerseits äquivalent zu PP.

Vierecke müssen im Unterschied zu Dreiecken nicht immer konvex sein, weshalb man im allgemeinen Fall die Existenz einer inneren Diagonalen eigens beweisen muss (vgl. Meschkowski, H.: Grundlagen der Euklidischen Geometrie [Mannheim u.a. 1968], 42f). Im vorliegenden Fall ist allerdings das entstehende Viereck stets konvex, da keiner seiner Winkel größer als 2R werden kann.





4.2 Indirekte Beweisversuche



4.2.1 Geronimo Saccheri


Der italienische Jesuit Geronimo Saccheri (1667-1733) wirkte in Oberitalien und unterrichtete Mathematik, Logik, Philosophie und im weitesten Sinne Wissenschaftstheorie.

Die Idee, das PP indirekt (also durch einen Widerspruchsbeweis) nachzuweisen, tritt in deutlicher Form nach den bereits oben genannten arabischen Mathematikern erstmals wieder in Saccheris Buch Euclides ab omni naevo vindicatus (Mailand, 1733) [etwa: Der von allen Zweifeln bereinigte Euklid] auf. Die grundsätzliche Bedeutung dieses Ansatzes liegt im Folgenden: Da man zur absoluten Geometrie eine der Verneinungen des PP (oder eine hierzu äquivalente Aussage) hinzu nimmt, um zu versuchen, zu einem Widerspruch zu gelangen, entwickelt man ein Stück weit eine nichteuklidische Geometrie, also eine Geometrie, welche auf einer der Negationen des PP aufbaut.

Prinzipiell sind verschiedene Negationen des PP denkbar, was sich allerdings erst deutlich zeigt, wenn man zu einer äquivalenten Formulierung übergeht. Nehmen wir die heutige gängige Formulierung von Playfair: Zu jeder Geraden g und jedem Punkt P, der nicht auf g liegt, gibt es genau eine Parallele zu g durch P. Dann kommen als Negationen dieser Allaussage in Betracht:

1) Es gibt einen Punkt P und eine Gerade g, die P nicht enthält, so dass es durch P keine Parallele zu g gibt. Wie wir gesehen haben, ist die sphärische Geometrie ein Beispiel hierfür. Allerdings steht diese im Widerspruch zur absoluten Geometrie. Das zeigt sich auch darin, dass ja die Existenz mindestens einer Parallelen in der absoluten Geometrie beweisbar ist (Euklid I,31). Dennoch wurde dieser Fall, der im übrigen der Aussage Im Dreieck ist die Winkelsumme stets größer als zwei Rechte [das entspricht bei PP dem Fall: + > 2R Existenz eines Schnittpunktes, was in Widerspruch zu I,17 (also wieder zur absoluten Geometrie) steht] gleichwertig ist, in der Geschichte der nichteuklidischen Geometrie immer wieder in Betracht gezogen. Für ihn fand man einen Widerspruch (vgl. etwa Saccheris Hypothese des stumpfen Winkels), was die Mathematiker wohl in ihrer Überzeugung bestärkte, dass auch die andere Negation des PP widerlegbar sein müsse.

2) Es gibt eine Gerade g und einen Punkt P, welcher nicht auf g liegt, durch den mehr als eine Parallele zu g verläuft. Es stellt sich nun heraus, dass aus der Existenz von mindestens zwei Parallelen zu g durch P sofort folgt, dass es unendlich viele Parallelen zu g durch P gibt, die alle im Winkelfeld zwischen diesen beiden Parallelen liegen. Somit muß man hier nur einen Fall betrachten.

Vorsicht! Im Fall, dass es mehr als eine Parallele gibt, den man auch den hyperbolischen Fall nennt, unterscheiden viele Autoren im Anschluß an Lobatschewski (siehe Abschnitt 5) Parallelen von sogenannten Überparallelen. Dabei sind Parallelen die ersten nicht schneidenden Geraden durch P zu g (bezüglich einer zu präzisierenden Ordnung), während alle anderen nicht schneidenden Geraden Überparallelen genannt werden. Vgl. etwa das Buch von O. Perron. Andere Autoren sprechen im Falle unserer Parallelen von Grenzgeraden oder Randparallelen, während sie alle nicht schneidenden Geraden Parallelen nennen.


Was Saccheri (und vielleicht auch Johann Heinrich Lambert, der einen ähnlichen Ansatz verfolgte, siehe nächsten Abschnitt), von den Begründern der nichteuklidischen Geometrie unterschied, war einzig und allein der Glaube, dass man auf die angegebenen Art und Weise zu einem Widerspruch gelangen müsse, dass also anders gesagt, eine nichteuklidische Geometrie nicht möglich sei. Saccheri meinte sogar, einen solchen Widerspruch bewiesen zu haben, wobei aber auffällt, dass sein Argument hierfür deutliche Schwächen zeigt. Das hat wohl auch Saccheri selbst gesehen. Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass Saccheri der erste Mathematiker gewesen ist, der Sätze der nichteuklidischen Geometrie bewiesen hat. Zu seinen Lebzeiten fand Saccheris Werk eine gewisse Beachtung (so bespricht es beispielsweise Johann Georg Klügel in seiner Dissertation in den Paragraphen IV und V ausführlich), um dann aber bald in völlige Vergessenheit zu versinken. Erst um 1870 herum, als die Diskussion um die nichteuklidische Geometrie in mathematischen Fachkreisen gerade beendet war, entdeckte E. Beltrami dieses bedeutende Werk wieder.


Ausgangspunkt für Saccheri war das Viereck. Das mag durch seine Kenntnis arabischer Quellen bedingt gewesen sein, in denen das Viereck, wie oben angedeutet, ebenfalls eine wichtige Rolle spielte (vgl. Saccheris Auseinandersetzung mit Wallis und ad Din at Tusi: Stäckel - Engel 1895, 82 - 85). Genauer gesagt, geht Saccheri von der nachfolgend abgebildeten Situation aus.

Die Seiten AC und BD sollen gleichlang, die Winkel bei A und B rechte sein. Ein derartiges Viereck wollen wir im weiteren Saccheri-Viereck oder auch Viereck von Chajjam-Saccheri nennen. (Letzteres ist historisch gesehen angebrachter, aber leider auch viel umständlicher.) Die Seite AB wird auch Basis, die Seite CD Antibasis genannt; AC und BD sind die Schenkel. Das Ziel Saccheris bestand nun darin, zu zeigen, dass unter diesen Bedingungen die Winkel bei C und D ebenfalls rechte sein müssen und dass folglich das Viereck ein Rechteck ist. Später (vgl. Lehrsatz XI) werden wir dann einsehen, dass der Satz Jedes Saccheri-Viereck ist ein Rechteck äquivalent ist zur Aussage des PP.

Um seinen Satz zu beweisen., versucht Saccheri seine beiden möglichen Verneinungen jeweils zum Widerspruch zu führen. Wie wir sehen werden, lauten diese: Die Winkel bei C und D sind stumpfe Winkel (Hypothese des stumpfen Winkels) und die Winkel bei C und D sind spitze Winkel (Hypothese des spitzen Winkels). Um dies vorzubereiten, beweist Saccheri erst einige Hilfssätze, zu deren Beweis nur Sätze der absoluten Geometrie gebraucht werden. Die nachfolgende Darstellung von Saccheris Beiträgen stützt sich auf die bei Stäckel und Engel wiedergegebene Übersetzung des Werkes von Saccheri (Stäckel/ Engel 1895, 48 - 136).


Lehrsatz I: Wenn zwei gleiche gerade Linien AC und BD mit der Geraden AB auf derselben Seite gleiche Winkel bilden, so behaupte ich, dass die Winkel an der Verbindungslinie CD einander gleich sind.

Beweis: Man ziehe die Diagonalen AD und BC und betrachte die Dreiecke CAB und DBA.

Diese sind nach I,4 (SWS) kongruent (AB ist gemeinsam, AC BD und CAD ABD nach Voraussetzung). Folglich gilt CB AD. Dann sind aber auch die Dreiecke ACD und BDC kongruent ( AC BD, AD BC und CD gemeinsam, also SSS oder I,8). Aus der Kongruenz der Dreiecke folgt die gewünschte Kongruenz der Winkel.


Lehrsatz II: Hat man ein solches Viereck ABDC und halbiert die Seiten AB und CD in den Punkten M und H, so behaupte ich, dass die Winkel an der Verbindungslinie MH auf beiden Seiten rechte sind.

Vor.: AC BD, CAB ABD, AM BM, CM DM

Beweis: Nach Lehrsatz I gilt zusätzlich ACD CDB. Weiter sind nach I,4 die Dreiecke AMC und MBD kongruent (AC BD, AM BM sowie CAB ABD). Also gilt auch CM MD. [Analog sind die Dreiecke ACH und BDH kongruent, was die Kongruenz AH HB liefert.] Schließlich sind nach I,8 (SSS) die Dreiecke CHM und DHM [bzw. AMH und MBH] kongruent. Also ist CHM seinem Nebenwinkel DHM [bzw. AMH seinem Nebenwinkel HMB] kongruent, weshalb beide rechte sein müssen.


Lehrsatz III: Wenn zwei gleiche gerade Linien AC und DB auf irgend einer Geraden AB senkrecht stehen, so behaupte ich, dass die Verbindungslinie CD entweder gleich AB oder kleiner oder größer ist, je nachdem die Winkel an CD rechte oder stumpfe oder spitze sind.

Beweis: 1) Zu zeigen: Unter der Hypothese des rechten Winkels gilt CD AB, das heißt das Viereck ist ein Rechteck. Angenommen, dies wäre nicht der Fall. Also wäre CD > AB oder umgekehrt. O.B.d.A. nehmen wir den ersten Fall an. Dann trage man auf CD von D aus die Strecke AB ab; der entstehende Endpunkt heiße K. Nun verbinde man A mit K. Nach Satz I (das Viereck ABKD hat nach Konstruktion die gleichlangen Schenkel AB und KD sowie gleiche - nämlich rechte - Winkel bei B und D), ist dann BAK DKA. Folglich ist DKA < R, da ja BAK < BAC R nach Konstruktion. Das ist aber ein Widerspruch, denn nach I,16 müsste der Außenwinkel DKA des Dreiecks AKC größer sein der gegenüberliegende Innenwinkel ACK R (wegen der Hypothese des rechten Winkels).

2) Zu zeigen: Unter der Hypothese des stumpfen Winkels ist CD < AB. Halbiere hierzu AB durch den Punkt M, CD durch H und verbinde M mit H.

Nach Satz II stehen AB und CD senkrecht auf MH. Da ACD > BAC nach Voraussetzung ist, muß AM CH sein. (Nach der Kontraposition des ersten Lehrsatzes bedingt die Verschiedenheit der Winkel diejenige der Seiten.)

Angenommen: CH > AM.

Das führt zu einem Widerspruch: Trage auf CH das Stück HK gleich AM von H aus ab.

Nach Lehrsatz I, angewendet auf das Viereck AMKH (es ist AM = HK; rechte Winkel bei M und H), sind die Winkel MAK und AKH gleich. Das ist aber unmöglich, weil MAK < R und damit auch AKH < R. Andererseits muß aber AKH > HCA nach I,16 (angewandt auf das Dreieck AKC) sein, was unmöglich ist, da HCA stumpf ist nach Voraussetzung.

Es kann aber auch nicht die Gleichheit AB = CD gelten. Wäre dies nämlich der Fall, so würde das Viereck AMHC die Voraussetzungen des Lehrsatzes I erfüllen (bezüglich der Basis MH), woraus folgen würde, dass die Winkel CAM und HCA gleich sein müßten. Das ist aber ein Widerspruch zur Voraussetzung.

Also muß gelten: AM > CH. Analog argumentiert man für MB und HD. Insgesamt erhält man dann: AB > CD.

  1. Wird analog zum zweiten Fall behandelt.

Die Vierecke AMHC und BMHD sind also dreirechtwinklig; solche Vierecke nennt man auch Haitam-Lambert-Vierecke.


Das Vorgehen von Saccheri im Falle der Hypothese des stumpfen Winkels ist insofern nicht korrekt, als man zeigen kann, dass im Falle der Gültigkeit dieser Hypothese der schwache Außenwinkelsatz nicht gilt. Dies hängt mit der Streckenverdopplung zusammen, welche man, wie bereits erwähnt, im Beweis von I,16 benötigt, die aber für die Hypothese des stumpfen Winkels nicht uneingeschränkt gegeben ist. Anders gesagt hat Saccheri nicht bemerkt, dass die Hypothese des stumpfen Winkels (im Unterschied zu derjenigen des spitzen Winkels!) nicht mit der absoluten Geometrie verträglich ist. Er ging vielmehr von einer vollkommenen Symmetrie zwischen den beiden nichteuklidischen Hypothesen aus.

Der Wert der Ausführungen Saccheris liegt weniger in seiner Behandlung der Hypothese des stumpfen Winkels als in jener des spitzen Winkels. In diesem Falle sind seine Argumente stets korrekt.

Im Anschluß an Lehrsatz III leitet Saccheri einige Konsequenzen für das dreirechtwinklige Viereck ab:

Gilt die Hypothese des stumpfen Winkels, so sind die Schenkel des Winkels, der von R verschieden ist, kleiner als ihre Gegenseiten, ist dagegen die Hypothese des spitzen Winkels gegeben, so sind sie größer.

Der Lehrsatz IV ist die Umkehrung des Lehrsatzes III: von den Seiten wird jetzt auf die Winkel zurück geschlossen.

Außerordentlich bemerkenswert ist dagegen Lehrsatz V: Hier beweist Saccheri nämlich, dass man nicht alle Vierecke untersuchen muß, sondern dass ein einziges Viereck genügt (vgl. das weiter oben in Kapitel 1 über die Winkelsumme des Dreiecks Gesagte). Genauer heißt das:

Lehrsatz V: Wenn die Hypothese des rechten Winkels auch nur in einem Falle richtig ist, so ist sie immer in jedem Falle allein die richtige.

Ich möchte an dieser Stelle nicht auf den Beweis dieses Satzes eingehen, da wir im Abschnitt 4.3 einen nahe verwandten Beweis von Legendre kennenlernen werden. Den Wortlaut des Beweises von Saccheri findet man bei Stäckel/ Engel 1895, 54f.


Die Lehrsätze VI und VII enthalten die analogen Aussagen für die Hypothese des stumpfen und des spitzen Winkels. Die Sätze VIII und IX befassen sich mit der Winkelsumme im (rechtwinkligen) Dreieck. Saccheri beweist, dass diese kleiner, gleich oder größer als zwei Rechte ist, je nachdem ob die Hypothese des spitzen, des rechten oder des stumpfen Winkels gilt. Wir werden gleich noch den Lehrsatz VIII, der eine Art Hilfssatz ist, brauchen, weshalb wir kurz auf ihn eingehen müssen.


Lehrsatz VIII: Gegeben sei irgendein Dreieck ABD, das in B rechtwinklig ist. Man verlängere DA bis zu einem beliebigen Punkte X und ziehe durch A, auf AB senkrecht, HAC, wo H innerhalb des Winkels XAB liege. Ich behaupte, dass der äußere Winkel XAH gleich dem inneren gegenüberliegenden Winkel ADB oder kleiner oder größer als dieser ist, jenachdem die Hypothese des rechten Winkels oder die des stumpfen Winkels oder die des spitzen Winkels richtig ist. Und umgekehrt.


Beweis: Man trage auf HC von A aus die Strecke BD ab, Endpunkt sei C, und verbinde C mit D. Dann ist ABDC ein Saccheri-Viereck. Im Falle der Hypothese des rechten Winkels ist nach Lehrsatz III dann CD gleich AB. Nach SSS (=I,8) sind dann die Dreiecke ADC und BDA kongruent und damit auch die Winkel ADB und DAC (das sind Wechselwinkel an parallelen Geraden). Nun sind aber DAC und XAH Scheitelwinkel, also nach I, 15 gleich, was die Behauptung im vorliegenden Falle liefert.

Gilt die Hypothese des stumpfen Winkels, so ist nach Lehrsatz III die Strecke CD kleiner als AB. Nach I,24 (Wenn in zwei Dreiecken zwei Seiten zwei Seiten entsprechend gleich sind, die Grundlinie aber im ersten Dreieck größer ist als im zweiten, dann muss aber auch der von den gleichen Strecken umfasste Winkel im ersten Dreieck größer sein als im zweiten.) ist der Winkel DAC und damit sein Scheitelwinkel XAH kleiner als ADB.

Analog beweist man die Behauptung für die Hypothese des spitzen Winkels.

Ist umgekehrt XAH (und damit sein Scheitelwinkel CAD) gleich ADB, so gilt nach SWS (=I,4), dass die Dreiecke ACD und BDA kongruent sind. Also sind AB und CD gleichlang, woraus nach Lehrsatz IV folgt, dass die Hypothese des rechten Winkels gelten muß.

Im Falle, dass die fraglichen Winkel nicht gleich sind, liefert I,25 (Wenn in zwei Dreiecken zwei Seiten zwei Seiten entsprechend gleich sind, der von den gleichen Strecken umfaßte Winkel aber im ersten Dreieck größer als im zweiten, dann muß auch die Grundlinie im ersten Dreieck größer sein als im zweiten.) CD < AB (bzw. CD > AB), was wiederum nach Lehrsatz IV auf die Hypothese des stumpfen (bzw. des spitzen) Winkels führt.


Der nachfolgende Lehrsatz IX beweist wohl erstmals in der Mathematikgeschichte überhaupt, dass die Winkelsumme im Dreieck in der nichteuklidischen Geometrie ungleich 2 Rechten ist.


Lehrsatz IX: In jedem rechtwinkligen Dreieck sind die beiden übrigen spitzen Winkel zusammengenommen gleich einem rechten bei der Hypothese des rechten Winkels, größer als ein Rechter bei der Hypothese des stumpfen Winkels und kleiner als ein Rechter bei der Hypothese des spitzen Winkels.


Beweis: Dieser Satz ist eine direkte Folgerung aus dem vorangehenden Lehrsatz, wobei man nur zu berücksichtigen hat, dass die dort auftretenden Winkel XAH und CAD Scheitelwinkel sind. Man kann nämlich jetzt die fragliche Summe DAB + ADB abzuschätzen: Je nachdem von welcher Hypothese man ausgeht, gilt ja

DAB + ADB = [<,>] DAB + CAD = R


Da man jedes Dreieck durch Ziehen einer inneren Höhe in zwei rechtwinklige Dreiecke zerlegen kann, lässt sich aus Lehrsatz IX leicht die entsprechende Aussage für Dreiecke allgemein gewinnen, weil man die Winkelsumme in den entstehenden rechtwinkligen Teildreiecken nach Lehrsatz IX kennt. Beachte: Dieser Schluss ist einfacher als derjenige, der von der Winkelsumme des Ausgangsdreiecks auf die der Teildreicke führt. Bei letzterem muss man nämlich die Möglichkeit beachten, dass sich die Abweichungen in den Winkelsummen in den beiden Teildreiecken gegenseitig kompensieren könnten. Um diese Möglichkeit auszuschalten, benutzt man meistens den ersten Legendreschen Satz.

Saccheri spricht im Lehrsatz IX von den spitzen Winkeln, weil ja nach I,17 die Summe zweier Winkel im Dreieck stets kleiner als zwei Rechte sein muss. Ist somit ein Winkel ein Rechter, so können die beiden verbleibenden beide nur spitz sein. Es stellt sich allerdings heraus, dass die Hypothese des stumpfen Winkels im Widerspruch zur absoluten Geometrie steht, weshalb man sich in ihrem Falle nicht auf I,17 berufen kann (vgl. auch das weiter oben zum Beweis von Lehrsatz III Gesagte).

Schließlich zeigt Saccheri in Satz XI, dass aus der Hypothese des rechten Winkels das PP in seiner Euklidischen Fassung folgt.


Lehrsatz XI: Eine Gerade AP (von beliebiger Länge) schneide zwei Gerade PL und AD, und zwar die erste in P unter einem rechten Winkel, der sich nach der Seite von PL hin öffnet. Ich behaupte, dass (bei der Hypothese des rechten Winkels) die Geraden AD und PL in einem gewissen Punkte, und zwar in endlicher oder begrenzter Entfernung, schließlich zusammentreffen werden, wenn man sie nach der Seite verlängert, wo sie mit der Grundlinie AP zwei Winkel bilden, die zusammen kleiner sind als zwei Rechte.

Beweis: Im Grunde genommen handelt es sich hierbei um den in 3.1 behandelten Beweis von Aganis - Simplikios. Wir übernehmen die von Saccheri abweichenden Bezeichnungen aus 3.1, errichten aber zusätzlich in B die Senkrechte HC und verlängern EB über B hinaus mit dem Punkt X (vgl. Lehrsatz VIII).


Zu zeigen ist: L'L LB.

Um dies zu beweisen, verbinden wir L' mit E und zeigen zuerst, dass L'E E'E EB gilt (die letzte Beziehung trifft aufgrund der Konstruktion zu). Angenommen, es wäre L'E > EE'. Nach I,18 (der größeren Seite liegt im Dreieck der größere Winkel gegenüber) gilt dann L'E'E > EL'E'. Andererseits ist aber L'E'E nach Lehrsatz VIII (Fall der Hypothese des rechten Winkels) gleich HBX. Letzterer Winkel ist aber seinem Scheitelwinkel CBE gleich (I,15), weshalb wir die Beziehung EL'E' > CBE erhalten. Die Winkel CBA und E'L'B sind nach Konstruktion rechte.

Also ist die Differenz EBL = CBA - EBC kleiner als die Differenz EL'B = E'L'B - E'L'E:

EL'B > EBL

Das widerspricht aber nach I,19 (dem größeren Winkel liegt die größere Seite im Dreieck gegenüber) der Annahme L'E > EE' EB.

Analog führt man die Annahme L'E < EE' zum Widerspruch.

Man erhält also die Gleichheit L'E EE'. Somit ist das Dreieck BEL' gleichschenklig, also sind nach I,5 die Winkel EL'B und L'BE kongruent. Nach WSW (=I,26a) sind dann auch die Dreiecke ELB und L'LE kongruent, woraus sich die gewünschte Kongruenz L'L LB sofort ergibt.

Völlig analog kann man nun beweisen, dass L''L' L'L ist und so weiter. Der Beweis des Satzes wird dann wie in 3.1 ausgeführt zu Ende gebracht.


In Lehrsatz XII beweist Saccheri eine analoge Aussage für die Geometrie des stumpfen Winkels. Auch dieser Beweis ist allerdings anfechtbar, da er I,16 verwendet. Die Aussage ist dennoch richtig: In der Tat gibt es in der Geometrie des stumpfen Winkels überhaupt keine Parallelen (was Saccheri jedoch nicht gesehen hat, da er fälschlicherweise davon ausging, dass I,17 auch im Falle dieser Hypothese gelte, was die Existenz von mindesten einer Parallelen erzwingen würde). Lehrsatz XIII verallgemeinert dann XI und XII auf den Fall, dass die Summe der innen anliegenden Winkel kleiner als 2 Rechte ist, ohne dass einer dieser Winkel ein Rechter wäre.

Saccheri weist ausdrücklich darauf hin, dass eine analoge Aussage in der Geometrie des spitzen Winkels nicht mehr gilt (vgl. Stäckel/Engel 1895, 64). Hier gibt es nicht schneidende Geraden, obwohl die Summe der innen anliegenden Winkel kleiner als zwei Rechte ist. Damit hat Saccheri eine weitere wichtige Einsicht in das Wesen dieser Geometrie gewonnen.

Um dies zu begründen, betrachtet Saccheri folgende Situation (wir haben sie als Doppellot bezeichnet):

Sei die Gerade XL gegeben. Man nehme einen Punkt P zwischen X und L, errichte in diesem die Senkrechte. Auf dieser nehme man einen weiteren Punkt A, in dem man wieder die Senkrechte AD errichte. Schließlich nehme man einen Punkt X in PL- und bilde das Dreieck XPA. Dann schneiden sich AD und PL nicht (nach I,17 oder I,27). Unter der Hypothese des spitzen Winkels ist aber nach Lehrsatz IX die Summe der Winkel XAP und AXP kleiner als ein Rechter, also sind die Innenwinkel bei A und bei X an der Transversalen AX (zu den beiden spitzen Winkeln des rechtwinkligen Dreiecks XPA kommt nun noch der rechte Winkel PAD hinzu) zusammen kleiner als zwei Rechte!


Schließlich kann Saccheri die Hypothese des stumpfen Winkels widerlegen.


Lehrsatz XIV: Die Hypothese des stumpfen Winkels ist ganz und gar falsch, weil sie sich selbst zerstört.

Beweis: Saccheri bringt zwei verschiedene Argumente vor.

Erstes Argument: Nach Lehrsatz XIII läßt sich unter Hypothese des stumpfen Winkels die Aussage des PP beweisen, aus dieser folgt aber die Hypothese des rechten Winkels. Widerspruch!

[Dieses Argument zeigt deutlich, dass Saccheri die Geometrie des stumpfen Winkels in ihrem Wesen nicht ganz richtig erkannt hat, denn der Unterschied zwischen dieser und der gewöhnlichen Euklidischen (=Hypothese des rechten Winkels) liegt in der Nichtexistenz von Parallelen oder, anders gesagt, in der Ungültigkeit des schwachen Außenwinkelsatzes I,16 (oder von I,17, was eine direkte Folgerung aus I,16 darstellt). Da es gar keine Parallelen gibt, trifft die Aussage des PP a fortiori in der Geometrie des stumpfen Winkels zu!]

Zweites Argument, "anders und unmittelbarer": Betrachten wir die Situation von eben.

Gilt die Hypothese des stumpfen Winkels, so sind die Winkel PXA und XAP nach Lehrsatz IX zusammen größer als ein Rechter. Dann trage man die Differenz 2R - ( PXA + XAP) in A in der Halbebene PAL+ ab. Die Summe der Innenwinkel bei P und bei A (PA wird als Transversale zu den beiden Geraden AD und XL aufgefasst) ist kleiner als zwei Rechte, folglich müssten sich nach Lehrsatz XII der freie Schenkel AD+ und die Halbgerade XP+ in einem Punkt L schneiden. Das stellt aber einen Widerspruch gegen I,17 dar, da die Innenwinkel XAL und PXA an der Transversalen XA zusammen größer als zwei Rechte sind.


Dieser Beweis ist natürlich anfechtbar, insofern man im Zusammenhang mit der Hypothese des stumpfen Winkels nicht auf I,17 zurückgreifen darf. Kann man das aber nicht, so fällt zum einen der Widerspruch selbst weg, zum andern ist aber auch nicht klar, ob die Summe PXA + XAP kleiner als 2R ist. Trifft dies nicht mehr zu, so wird die Konstruktion, welche dem Beweis zugrunde liegt, undurchführbar. Anders gesagt ist die Geometrie des stumpfen Winkels eine, in der es gar keine nicht schneidenden Geraden gibt, was im Widerspruch gerade zu I,17 steht, weil dieser Satz nämlich schon die Existenz nicht schneidender Geraden garantiert. Das wird allerdings bei Euklid erst in I,32 deutlich.

Im übrigen ist es bemerkenswert, dass Saccheri an keiner Stelle die Geometrie des stumpfen Winkels mit der sphärischen Geometrie in Verbindung bringt, obwohl sich doch gewisse Parallelen geradezu aufdrängen: Winkelsumme größer als 2R, Fehlen von Parallelen (das hat allerdings Saccheri so nicht gesehen) etc. Das bestärkt mich in der Auffassung, dass auch noch zur Zeit Saccheris die spärische Geometrie nicht als eine der Euklidischen vergleichbare Geometrie angesehen worden ist.


Auf die Art und Weise, wie Saccheri einen Widerspruch in der Geometrie des spitzen Winkels herleitet, möchte ich nur kurz eingehen. Herausstellen will ich vor allem, dass er dabei den folgenden bemerkenswerten Satz beweist:


Lehrsatz XXIII: Liegen irgend zwei Gerade AX und BX in derselben Ebene, so haben sie (auch bei der Hypothese des spitzen Winkels) entweder ein gemeinsames Lot oder sie müssen, wenn man sie nach einer gewissen, aber beide nach derselben Seite verlängert, entweder einmal in endlicher Entfernung zusammentreffen oder wenigstens einander immer näher kommen.


Beweis: Wir fällen von AX in den Punkten K, K', K'', ... die Lote auf die Gerade BX. Die Lotfußpunkte seien L, L', L'', ...

Dann sind die Winkel in den Vierecken KLL'K', ... zu untersuchen. Tritt dabei ein rechter Winkel in einem der Punkte K, K', K'',... auf, so hat man an dieser Stelle ein gemeinsames Lot. Angenommen aber, die Winkel LKK', L'K'K'', ... seien alle stumpf. Dann sind deren Nebenwinkel AKL, K K' L', ... alle spitz, woraus nach einem Zusatz zu Lehrsatz III (vgl. Stäckel - Engel 1890, 53) folgt, dass KL > K'L' > K''L'' > ... Ist dagegen einer der Winkel KK’L’, K’K’’L’’, ... ein spitzer, so folgt nach Lehrsatz XXII (vgl. Stäckel/Engel 1890, 87f) die Existenz eines gemeinsamen Lotes.

Bem. „Immer näher“ meint wohl, dass der Abstand der beiden Geraden gegen Null geht. Das gibt allerdings der obige Beweis nicht her.


In der modernen Terminologie der hyperbolischen Geometrie sind die Geraden mit gemeinsamem Lot Überparallelen, diejenigen, welche konvergieren, ohne sich zu schneiden, Parallelen und die anderen schneidende Geraden.


Damit hatte Saccheri entdeckt, dass es in der Geometrie des spitzen Winkels konvergierende nicht schneidende Geraden geben kann. Es ist im übrigen auffallend, dass er in der entsprechenden Abbildung die Gerade AX gekrümmt zeichnet (vgl. Stäckel/Engel 1895, 89).

Die Existenz konvergierender Geraden spielt in Saccheris Widerlegung der Hypothese des spitzen Winkels eine entscheidende Rolle, woraus man schließen mag, dass auch er dieses Phänomen als äußerst paradox empfunden haben muss. Diese Widerlegung sei hier zum Schluss unserer Betrachtungen zu Saccheri zitiert.


Lehrsatz XXXIII: Die Hypothese des spitzen Winkels ist durch und durch falsch, weil sie der Natur der geraden Linie widerspricht.

Beweis: Wie aus den vorangegangenen Theoremen hervorgeht, führt die der Euklidischen Geometrie entgegengesetzte Hypothese des spitzen Winkels schließlich dahin, dass wir das Vorhandensein zweier in derselben Ebene liegender Geraden AX und BX zugeben müssen, die nach der Seite der Punkte X ins Unendliche verlängert schließlich in ein und derselben geraden Linie zusammenlaufen müssen, da sie nämlich in ein und demselben unendlich entfernten Punkte X ein Lot gemeinsam haben, das in derselben Ebene liegt, wie sie selbst.


Man beachte den Terminus Euklidische Geometrie.

Es folgen lange Erörterungen über das Wesen der geraden Linie, in deren Verlauf sich Saccheri ausführlich auch mit Euklids Definition dieses Begriffes sowie mit einigen seiner Axiome auseinandersetzt. Er schließt geradezu beschwörend:

Es ist, wie ich hier als an sich einleuchtend hinstellen darf, kein geringerer Widerspruch, dass zwei gerade Linien (...) schließlich in ein und dieselbe gerade Linie zusammenlaufen, als dass ein und dieselbe gerade Linie (...)sich in zwei Linien spaltet, ... (Stäckel/Engel 1895, 122)


Es folgt dann bei Saccheri noch ein zweiter Teil, der einen anderen Beweis für die Unzulässigkeit der Hypothese des spitzen Winkels bringt.

Hierbei könnte ich mich gut und gern beruhigen. Aber ich will nichts unversucht lassen, um die widerspenstige Hypothese des spitzen Winkels, die ich schon mit der Wurzel ausgerissen habe, als sich selbst widersprechend nachzuweisen. Das wird nun der einzige Zweck der folgenden Theoreme dieses Buches sein.

(Stäckel /Engel 1895, 122)


Ein bemerkenswertes Licht auf das Verständnis von Saccheris Werk bei seinen Zeitgenossen wirft Klügels Dissertation. Dort heisst es in §IV:

Darauf befindet sich der Autor gänzlich darin, vieles zu folgern, was aus der Hypothese des spitzen Winkels fließt. Dabei findet sich viel Überflüssiges, alles aber liegt weit entfernt von derjenigen Eleganz, die in geometrischen Beweisen richtigerweise gesucht wird und deren beste Beispiele die alten Geometer gaben. In den Fallen, die er besagter Hypothese stellt, fängt sich der Autor selbst, der so große Umwege geht, so dass ich, wenn ich wohl nichts in seinem Beweise tadeln könnte, dennoch lieber mich mit dem Euklidischen Axiom zufrieden geben wollte, dessen Wahrheit, obwohl sie nur durch einen klaren Begriff durchschaut worden ist, dennoch sicherer angewendet wird, als man in so dunklen und eingerollten Überlegungen hofft, dass kein Fehler begangen werde.

Man bemerkt, dass Klügel nichts mit Saccheris Überlegungen anzufangen weiß; das revolutionär Neue in ihnen bleibt ihm verschlossen. In seiner durchaus berechtigten Detailkritik setzt sich Klügel vor allem mit der Verwendung des Unendlichen bei Saccheri auseinander (in seiner Behauptung, unter der Hypothese des spitzen Winkels gebe es nicht schneidende Geraden mit einem gemeinsamen Lot im Unendlichen).

Ideengeschichtlich interessant sind übrigens noch die Erwägungen, welche Saccheri zur Überprüfung des Euklidischen Parallelenpostulats durch sorgfältige physikalische Versuche anstellt (vgl. Stäckel/Engel 1895, 79 -82).



4.2.2 Johann Heinrich Lambert (1728-1777)


Lambert stammte aus dem zu seiner Zeit der Eidgenossenschaft zugehörigen Mühlhausen (Elsaß), dem heutigen Mulhouse. Er war unter anderem als Schneider, Schreiber, Buchhalter und Privatlehrer tätig. 1765 ging Lambert auf Betreiben Friedrichs des Großen nach Berlin an die Akademie der Wissenschaften. Friedrich dem Großen war es nach seiner Thronbesteigung 1740 darum zu tun gewesen, aus Berlin ein mächtiges intellektuelles Zentrum zu formen, weshalb er neben Lambert auch zahlreiche andere Gelehrte wie Euler und Lagrange nach Berlin rief. Lambert war ein sehr vielseitiger Gelehrter; bekannt geblieben sind seine Beiträge zur Optik (u.a. Lambert - Beersches - Gesetz, Lambertsches Konsinusgesetz), seine Arbeiten zur Kartenprojektion (Lambert - Projektion), sein Beweis der Irrationalität der Kreiszahl sowie seine logisch - wissenschaftstheoretischen Untersuchungen.

Dialog mit Friedrich dem Großen

Fr.: Guten Abend, mein Herr! Machen Sie mir das Vergnügen, mir zu sagen, welche Wissenschaften Sie besonders erlernt haben.

L.: Alle.

Fr.: Sie sind also auch ein geschickter Mathematiker?

L.: Ja.

Fr.: Und welcher Professor hat Sie in der Mathematik unterrichtet?

L.: Ich selbst.

Fr.: Sie sind demnach ein zweiter Pascal?

L.: Ja, Ihro Majestät!

(zitiert nach: Meschkowski, H.: Mathematiker - Lexikon (Mannheim u.a., 1980), S. 171)


Lambert hat seine 1765 entstandene Theorie der Parallellinien nicht selbst veröffentlicht, vermutlich weil er mit ihr nicht zufrieden war. Sie wurde erst 1786 posthum von C. F. Hindenburg (1741-1808; Hindenburg war vor allem Kombinatoriker und als solcher die Leitfigur einer Gruppe von Mathematikern, die zwar mathematikhistorisch keinen nachhaltigen Einfluss hatte, aber zur damaligen Zeit eine wichtige Rolle spielte) in seinem (zusammen mit Johann Bernoulli II (1710-1790), dem Enkel des bekannten gleichnamigen Baslers Mathematikers, herausgegebenen) Leipziger Magazin für reine und angewandte Mathematik, der ersten deutschen Fachzeitschrift für Mathematik überhaupt (sie erschien allerdings nur von 1786 bis 1788), publiziert. Es scheint so, als sei Lambert durch Klügels Dissertation sowie durch die kritischen Bemerkungen von dessen Doktorvater A. G. Kästner (1719-1800), der die Position vertrat, man müsse PP als unbeweisbares Axiom voraussetzen, zu seiner Arbeit angeregt worden. Diese zerfällt in drei Teile:

  1. Teil: Er enthält wissenschaftstheoretische Bemerkungen zu Euklids Grundlegung der Geometrie und ist als solcher sehr lesenswert.

  2. Teil: Dieser bringt eine Behandlung des Parallelenproblems in klassischer Manier, wobei Lambert das Problem auf das später von W. Bolyai (vgl. Kapitel 5) verwendete Axiom Durch drei nicht-kollineare Punkte der Ebene gibt es immer einen Kreis reduziert.

  1. Teil: Hier findet man Betrachtungen zum dreirechtwinkligen Viereck (Lambertsches Viereck oder Viereck von Haitam - Lambert). Ähnlich wie zuvor Saccheri versuchte Lambert, die Hypothesen des stumpfen und des spitzen Winkels zu widerlegen, um so die Euklidische (das ist die des rechten Winkels) Geometrie als zutreffend zu erweisen. Lamberts Widerlegung der erstgenannten Hypothese ist weitgehend von I,16 und 1,17 unabhängig, also korrekter als diejenige Saccheris.


Lambert gelangte im Laufe seiner Bemühungen zu vielen bemerkenswerten Einsichten in das Wesen der Geometrie des spitzen Winkels. Zwei Stellen aus seiner Abhandlung mögen das belegen:


§79: ... Die erheblichste von solchen Folgen ist, dass, wenn die dritte Hypothese [des spitzen Winkels] statt hätte, wir ein absolutes Maaß der Länge jeder Linien, des Inhalts jeder Flächenräume und jeder körperlicher Räume haben würden. Dieses stößt nun einen Satz um, den man ohne Bedenken unter die Grundsätze der Geometrie rechnen kann, und woran bislang kein Mensch gezweifelt hat, dass es nehmlich kein absolutes Maaß gebe.

(Stäckel/Engel 1895, 199f)


Auf das Problem des absoluten Längenmaßes werden wir später noch zu sprechen kommen.


§81: ... Bey dieser [Hypothese des spitzen Winkels] ist nicht nur, wie wir vorhin gesehen haben, in jedem Triangel die Summe der drey Winkel kleiner als 180 Gr. oder zween rechte Winkel; sondern der Unterschied von 180 Gr. wächst schlechthin nach dem Flächenraume des Triangels; das will sagen: wenn von zween Triangeln der eine einen grössern Flächenraum hat, als der andere: so ist in dem erstern die Summe der drey Winkel kleiner als sie in dem anderm ist. (Stäckel /Engel 1895, 201)


Lambert bemerkt hier also, dass es eine Proportionalität zwischen der Fläche des Dreiecks und der Differenz zwischen zwei Rechten und seiner Winkelsumme gibt (vgl. unten).

Eine weitere wichtige Einsicht wird in dem nachfolgend zitierten Paragraphen angedeutet:


§82: Hierbey scheint mir merkwürdig zu seyn, dass die zwote Hypothese [das ist die des stumpfen Winkels; K.V.] statt hat, wenn man statt ebener Triangel sphärische nimmt, weil bei diesen sowohl die Summe der Winkel größer als 180 Gr. als auch der Überschuße dem Flächenraume des Triangels proportional ist.

Noch merkwürdiger scheint es, dass, was ich hier von den sphärischen Triangeln sage, sich ohne Rücksicht auf die Schwierigkeit der Parallellinien erweisen lasse, und keinen andern Grundsatz voraussetzt, als dass jede durch den Kugelmittelpunkt gehende ebene Fläche die Kugel in zween gleiche Theile theile.

Ich sollte daraus fast den Schluß machen, die dritte Hypothese komme bey einer imaginären Kugelfläche vor. Wenigstens muß immer etwas seyn, warum sie sich bey ebenen Flächen lange nicht so leicht umstoßen läßt, als es sich bey der zwoten thun ließ. (Stäckel/Engel 1895, 202f)


Lambert dürfte der erste gewesen sein, der einen Zusammenhang zwischen der sphärischen Geometrie, die er zutreffend in die absolute Geometrie einordnete, und der Parallelenfrage hergestellt hat, der also diese Geometrie wirklich als Geometrie angesehen hat. Damit stand erstmals ein anschauliches, wenn auch nicht in allen Hinsichten adäquates Modell für die Geometrie des stumpfen Winkels zur Verfügung (man denke auch an Lamberts Arbeiten über Kartenprojektionen). Dieses Modell wurde sogleich zu einem Analogieschluss herangezogen, der vielleicht so ausgesehen hat:

In der sphärischen Geometrie gilt für die Fläche des S-Dreiecks auf einer Sphäre vom Radius r:

A = r2( - 2R)

wobei die Winkelsumme des fraglichen Dreiecks ist; die Differenz - 2R wird als Exzess bezeichnet. Setzt man nun für r die rein imaginäre Größe ir, so erhält man die Formel für den Flächeninhalt des hyperbolischen Dreiecks

A = (ir)2( - 2R) = r2(2R - )

Dabei heißt die Größe (2R - ) Defekt des Dreiecks. Man sieht jedenfalls sofort, dass diese Formel genau die merkwürdigen Eigenheiten widerspiegelt, die Lambert im oben zitierten Paragraphen 81 angesprochen hat: Der Flächeneinhalt wächst proportional zum Defekt.

Lamberts Abhandlung hatte keinen großen Einfluß auf die weitere Entwicklung, insbesondere auf J. Bolyai und N. Lobatschewski (vgl. Kapitel 5). Seine Vision einer Geometrie auf der Kugel mit imaginärem Radius sollte erst nach 1900 im Zusammenhang mit den durch die Relativitätstheorie aufgekommenen pseudo-euklidischen Räumen eine Konkretisierung erfahren. Dagegen hat Lamberts Wissenschaftstheorie I. Kant beeinflusst, insbesondere in der Hinsicht, dass letzterer den Begriff der Konstruktion in den Mittelpunkt seiner Philosophie der Mathematik stellte. Kants Philosophie wurde nach 1860 häufig als Argument gegen die (erkenntnistheoretische) Möglichkeit einer nichteuklidischen Geometrie ins Feld geführt werden. Das kann man als Ironie der Geschichte ansehen.

[Siehe hierzu Peters, W.S.: Johann Heinrich Lamberts Konzeption einer Geometrie auf einer imaginären Kugel (Dissertation Bonn 1961 = Kant Studien 53 (1961/62), 51 - 67).]


Damit möchte ich diesen Abschnitt über indirekte Beweisversuche des PP beenden. An Beweisversuchen für das PP fehlte es vor und erst recht nach Lamberts Zeit nicht, so führt Sohnke in seinem bereits erwähnten 1838 veröffentlichten Enzyklopädieartikel etwa 90 Arbeiten zu diesem Thema an. Übrigens hat auch Gauß, der wohl als erster Mathematiker die Möglichkeit einer nichteuklidischen Geometrie klar erkannte, zwei derartige Beweisversuche für die Göttinger Anzeigen besprochen und bei dieser Gelegenheit sehr vorsichtig seine Ansicht angedeutet (vgl. Gauß Werke Band VIII, 170 - 174 und 183 - 185). In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es auch in Heidelberg einen Autor namens J. A. P. Bürger, der ein Buch Vollständig erwiesene, von den ältesten Zeiten bis jetzt noch unberichtigt gewesene Theorie der Parallellinien ... über den Beweis des PP veröffentlichte (Heidelberg, 1833). Ihm folgten zwei weitere Abhandlungen (Heidelberg, 1834 bzw. 1835), in denen sich Bürger mit seinen Kritikern auseinandersetzte.

Einen umfassenden Überblick zur Literatur der Parallelentheorie gibt Sommerville, D. M. Y.: Bibliography of non-Euclidean Geometry (London, 1911 - Nachdruck New York, 1970).

Bevor wir uns den eigentlichen Begründern der nichteuklidischen Geometrie zuwenden, möchte ich noch auf A. M. Legendre eingehen, den Euklid des 19. Jahrhunderts, wie man ihn anerkennend nannte, der im Zuge seiner Bemühungen um das PP zwei noch heute zentrale Sätze (nämlich den ersten und den zweiten Legendreschen Satz) bewies und der auch einen interessanten Pseudobeweis für PP lieferte.




4.3 Legendre und seine Sätze



Andrien Marie Legendre (1752 - 1833) wirkte in Paris, wo er auch seine sehr gute wissenschaftliche Ausbildung erhielt. Er lehrte zunächst an der École Militaire, war ab 1783 eng mit der Pariser Akademie verbunden und wurde später Professor an der École Normale. Von 1813 bis 1833 gehörte er als Nachfolger von Lagrange dem Bureau des Logintudes an. Seine wichtigsten Arbeitsgebiete waren die elliptischen Integrale, die Zahlentheorie und die Grundlagen der Geometrie. Er leistete auch Beiträge zur Himmelsmechanik und Variationsrechnung. Seine 1794 erstmals erschienenen Eléments de géométrie erzielten mehr als 30 Auflagen und wurden in zahlreiche Sprachen (auch ins Deutsche) übertragen. Dabei handelt es sich um ein Lehrbuch der Geometrie, das sich allerdings von seinem antiken Vorgänger durch einen großzügigen Gebrauch von Algebra und Trigonometrie unterscheidet. In einem der vielen Anhänge (in der 11. Auflage ist es die Note IV) zu seinen Eléments äußerte Legendre übrigens wohl als Erster in der Mathematikgeschichte überhaupt klar die Vermutung, dass die Kreiszahl transzendent sei (Legendre 1817, 295). Die verschiedenen Auflagen der Elémens unterscheiden sich stark voneinander, wobei gerade bezüglich der Parallelentheorie immer wieder Änderungen vorgenommen wurden (die nachfolgend dargestellte Version der Parallelentheorie findet sich nach Legendres Angaben [Legendre 1833, 369 und 371] in den Auflagen drei bis acht). In seinem Todesjahr gab Legendre, der zeit seines Lebens davon überzeugt war, dass das PP ein beweisbarer Satz der absoluten Geometrie sei, eine Art Zusammenfassung seiner Ansichten in dem Vortrag Réflexions sur quelques manières de démontrer la théorie des parallèles ou le théorème sur la somme des trois angles du triangle vor der Pariser Akademie (Legendre 1833). Dort heißt es abschließend:


Il n'en est pas moins certain que le théorème sur la somme des trois angles du triangle doit être regardé comme l'une de ces vérités fondamentales qu'il est impossible de contester, et qui sont un exemple toujours subsistant de la certitude mathématique ... C'est sans doute à l'imperfection du langage vulgaire et à la difficulté de donner une bonne définition de la ligne droite, qu'il faut attribuer le peu de succès qu'ont obtenu jusqu'ici les géomètres, lorsqu'ils ont voulu déduire ce théorème sur l'égalité des triangles que contient le premier livre des Eléments.

Mais lorsqu'on a traduit la question en langage algébrique, lorsque, dans les rapports qui naissent de la considération des lignes et des angles, on a tenu compte de la loi des homogènes ..., toute difficulté a disparue et la démonstration du théorème dont il s'agit s'est réduite tout d'un coup au dernier degré de simplicité dont elle est susceptible.

(Legendre 1833, 372)

(Es ist nicht weniger gewiss, dass der Winkelsummensatz als eine jener fundamentalen Wahrheiten betrachtet werden muss, die man unmöglich bezweifeln kann und die immerwährende Beispiele der mathematischen Gewissheit sind. ... Ohne Zweifel ist es der Unvollkommenheit der Umgangssprache und der Schwierigkeit, eine exakte Definition der geraden Linie zu geben, geschuldet, dass die Geometer bis auf den heutigen Tag so wenig Erfolg bei ihren Versuchen hatten, diesen Satz über die Gleichheit von Dreieck im Rahmen des ersten Buches der Elemente abzuleiten.

Übersetzt man aber die Frage in die Sprache der Algebra, indem man in den Verhältnissen, welche aus der Betrachtung der Linien und Winkel entstehen, das Homogenitätsgesetz beachtet, ..., so verschwindet auf ein Mal jegliche Schwierigkeit zugunsten der vollkommendsten Einfachheit, deren die Frage möglich ist.)

Das Problem hierbei ist nur - und das war Legendre offensichtlich überhaupt nicht klar -, dass etwa in der gewöhnlichen Trigonometrie das PP bereits versteckt enthalten ist: Diese beruht ja auf der Betrachtung der Verhältnisse von Seiten in ähnlichen (!) rechtwinkligen Dreiecken. Natürlich kann man die trigonometrischen Funktionen rein analytisch über Potenzreihen definieren und dann auch in der nichteuklidischen Geometrie verwenden, wie das Lobatschewski getan hat (vgl. 5.2), aber von Seitenverhältnissen ist dann nicht die Rede.


Legendre stellte den Satz über die Winkelsumme des Dreiecks in den Mittelpunkt seiner Bemühungen. Er bewies in seinem Vortrag wie schon zuvor in den Auflagen drei bis acht der Eléments die folgenden beiden Sätze:

1. Legendrescher Satz: Die Summe der Innenwinkel eines Dreiecks kann (in der absoluten Geometrie) zwei Rechte nicht übersteigen (Legendre 1833, 369).

2. Legendrescher Satz: Beträgt die Summe der Innenwinkel eines einzigen Dreiecks zwei Rechte, so gilt diese Beziehung in jedem Dreieck (Legendre 1833, 375)

Seine Theorie abrunden sollte der nachfolgende Satz:

3. Legendrescher Satz: Die Summe der Innenwinkel eines Dreiecks kann nicht kleiner sein als zwei Rechte (Legendre 1833, 379).

Der Beweis dieses Satzes erwies sich aber als nicht stichhaltig, da in ihm eine Annahme verwendet wird, welche dem PP äquivalent ist (klar und deutlich öffentlich ausgesprochen wurde dies erst 1870 von R. Baltzer in einer Note im Crelle Journal: Ueber die Hypothese der Parallelentheorie (Journal für die reine und angewandte Mathematik 73 (1870), 372f)).


Beweis von Satz 1: Angenommen, es gäbe ein Dreieck ABC, in dem die Winkelsumme größer als zwei Rechte ist. Dann verlängere man eine seiner Seiten (o.B.d.A. nehmen wir AC) zur Halbgeraden AC+, trage hierauf die Strecke AC nacheinander genügend oft (wie oft wird sich gleich zeigen) ab, was die neuen Punkte E, G, ...,P liefert. Über den Strecken CE, EG, ..., NP konstruiere man dem Ausgangsdreieck kongruente Dreiecke mit den Spitzen D, F, ..., O, Q. Diese Spitzen verbinde man paarweise durch Strecken.


Für den Winkel ' gilt: ' = 2R - - . Folglich ist wegen + + > 2R der Winkel ' kleiner als . Nach I,24 (dem größeren Winkel liegt bei gleichen Schenkeln die größere Seite gegenüber) ist damit BD < AC. Nach SWS (=I,4) sind die Dreiecke BCD, DEF, ..., OPQ alle kongruent (CD EF [AB], ED BC, BCD DEF und so weiter). Folglich sind die Strecken BD, DF, ..., OQ alle gleich lang. Sei AC - BD = d > 0 (letzteres haben wir gerade bewiesen). Nach n Konstruktionsschritten ist die Differenz zwischen AP = n*AC (= AC + CE + EG + ... + NP; man beachte, dass diese Strecken alle auf einer Geraden liegen) und BD + DF +... + OQ (diese Strecken liegen aber nicht notwendig in einer Geraden, weshalb es hier tatsächlich um Längen geht) gleich n*d. Ist n genügend groß, so gilt bestimmt: AB + PQ = 2 AB < n*d. Insgesamt erhält man die Beziehung:

AP - (BD + DF + ... + OQ) = n*d > AB + PQ

oder

AP > AB + PQ + (BD + DF + ... + OQ)

bzw.

AP > AB + (BD + DF + ... + OQ) + PQ

Das ist aber unmöglich, weil ABQP ein Vieleck ist und eine Seite desselben stets kleiner sein muß als die Summe der restlichen (Verallgemeinerung der Dreiecksungleichung I,20).


Anstelle der hier gezeigten Schlussweise, welche auf der Differenz gewisser Seiten beruht, kann man auch mit Winkeln argumentieren, vgl. etwa Baltzer 1867, 14f. Dabei tritt die Parallele zu Euklids Beweis für I,16 deutlich hervor. Wie jener Beweis setzt auch derjenige von Legendre 1 die beliebige Verlängerbarkeit von Strecken voraus (siehe unten).


Beweis von Satz 2: Sei ABC das Dreieck mit Winkelsumme 2R. O.B.d.A. dürfen wir < R und < R annehmen. Nun fälle man von C das Lot auf AB (Lotfußpunkt heiße D); nach Voraussetzung liegt dieses dann im Innern von ABC. Dabei werde der Winkel zerlegt in die Teilwinkel und .

Es gilt dann nach Legendre 1:

+ + R 2R

und + + R 2R

Folglich ist + R und auch + R. Da aber

+ + ( + ) = 2R

gelten soll, muss beide Male die Gleichheit gelten. Also ist die Winkelsumme auch in den beiden Teildreiecken ACD und DBC gleich zwei Rechten.

Diese Konstruktion zeigt, dass es genügt, rechtwinklige Dreiecke zu betrachten: Beträgt die Winkelsumme in jedem rechtwinkligen Dreieck zwei Rechte, so auch in jedem Dreieck (vgl. Saccheri). Sei also ein beliebiges rechtwinkliges Dreieck FIK gegeben.

Indem wir an unser rechtwinkliges Dreieck ADC eine kongruente Kopie längs AC ansetzen, erhalten wir ein Rechteck. Dieses können wir wieder an sich selbst anfügen. So gelangt man zu Rechtecken und damit auch zu rechtwinkligen Dreiecken mit beliebig großen Seiten (hier geht erneut die Voraussetzung ein, dass man Strecken beliebiger Länge bilden kann) und der Winkelsumme zwei Rechte.

Deshalb können wir ein rechtwinkliges Dreieck FGH mit Winkelsumme 2R finden, so dass das Dreieck FIK in diesem enthalten ist (also FI eine Teilstrecke von FG, FK eine von FH ist).

Wir verbinden nun H mit I. Im entstandenen Hilfsdreieck FHI kann die Summe der Winkel FHI und FIH nicht größer als R sein nach Legendre 1.

Sie kann aber auch nicht kleiner sein, wie der folgende Widerspruchsbeweis zeigt:

Angenommen, es wäre FHI + FIH < R. Dann betrachte man:

FHI + IHG + HGI + GIH + HIF

Die drei Winkel IHG, HGI, GIH sind gerade die Innenwinkel des Dreiecks IHG, folglich ist ihre Summe nach Legendre 1 kleiner/gleich zwei Rechten. Also gilt insgesamt:

FHI + IHG + HGI + GIH + HIF < 3R

Es ist aber FHI + IHG = FHG und GIH + HIF = 2R da Nebenwinkel. Somit hat man

FHG + HGI + 2R < 3R

oder FHG + HGI < R

Das ist aber ein Widerspruch zur Tatsache, dass das rechtwinklige Dreieck FGH die Winkelsumme 2R besaß.

Also beträgt die Winkelsumme im Dreieck FIH ebenfalls 2R. Analog schließt man im nächsten Schritt vom Dreieck FHI auf das Dreieck FIK.


Beweisidee zu Satz 3: Angenommen, es gäbe ein Dreieck ABC mit der Winkelsumme 2R- mit 0. Man verlängere nun die Strecke AC über C und die Strecke AB über B hinaus, und betrachte dann ein Dreieck BDC, welches zu ABC kongruent ist. Legendre geht nun davon aus, dass es durch D eine Gerade gibt, welche die Verlängerungen von AC und AB in B bzw. C schneidet. Deren Existenz ist aber tatsächlich nur dann gesichert, wenn das PP gilt! (Dies wusste Legendre offensichtlich nicht.) Angenommen, es gibt diese Gerade, erhält man durch Rechnen, dass die Winkelsumme des Dreiecks ABC gleich 2R-2 ist. Durch Iteration kann man weiter Dreiecke mit Winkelsummen 2R-4, 2R-8, ... konstruieren und kommt letztendlich zu einem Dreieck mit negativer Winkelsumme, was den notwendigen Widerspruch herbeiführen würde.


Wie bereits bemerkt, hängen die beiden ersten Legendreschen Sätze von der Möglichkeit ab, beliebig lange Strecken zu bilden. Diese kann z.B. durch das Axiom von Archimedes - Eudoxos garantiert werden, wenn es entsprechend formuliert wird. Die genannte Abhängigkeit wurde von Max Dehn (1878-1952), genauer untersucht. Max Dehn war ein ausgezeichneter Geometer, der sich auch mit Topologie und Gruppentheorie beschäftigt hat. Er lehrte ab 1921 an der Universität Frankfurt, wo er 1935 vorzeitig aus rassischen Gründen entlassen wurde, und er deshalb auf Umwegen letztendlich in die USA emigrierte. Er fand:


1) Die Aussage Wenn die Winkelsumme in einem Dreieck größer/gleich/kleiner als zwei Rechte ist, dann in jedem Dreieck gilt unabhängig vom Axiom von Archimedes - Eudoxos.

2) Es gibt Geometrien, in denen das Axiom von Archimedes - Eudoxos nicht gilt, in denen es zu einer Geraden und einem nicht-inzidierenden Punkt unendlich viele nicht-schneidende Geraden durch diesen Punkt gibt und in denen die Winkelsumme größer 2 Rechte ist (auch gleich zwei Rechte ist möglich).

3) Gibt es in der in 2) beschriebenen Situation keine nicht schneidende Geraden, so beträgt die Winkelsumme stets mehr als zwei Rechte.

[Vgl. hierzu Dehn, M.: Die Legendreschen Sätze über die Winkelsumme im Dreieck (Mathematische Annalen 53 (1900), 404 - 439)]


Der 2. Legendresche Satz erlaubt es, die Aussage des Parallelenaxioms in seiner Form von Playfair bemerkenswert zu reduzieren. Es genügt nämlich, folgendes zu fordern:

Es gibt eine Gerade g und einen mit ihr nicht-inzidierenden Punkt P, so dass durch P zu g nur genau eine Parallele zu g existiert.

Beweis für die Äquivalenz dieser beiden Formen des Parallelenaxioms:

Ersichtlich folgt aus der Playfairschen Form die obige Aussage.

Wir setzen jetzt umgekehrt die obige reduzierte Form voraus. Sei g also die gegebene Gerade, P der Punkt und h die eindeutig bestimmte Parallele durch P zu g. Wir nehmen auf g einen beliebigen Punkt Q und verbinden diesen mit P, erhalten also eine Transversale PQ zu den beiden Parallelen g und h.



Die Stufenwinkel bezüglich dieser Transversalen sind dann alle kongruent. Denn angenommen, dies wäre nicht der Fall, so trage man einen Winkel, der dem Winkel in Q zwischen PQ und g kongruent ist, in P an h entsprechend an. Nach I,28a erhält man so eine Parallele h' durch P zu g, welche - da der Stufenwinkel in Q bezüglich PQ und g nach Voraussetzung ungleich dem angetragenen Winkel ist - verschieden von h ist. Das ist aber ein Widerspruch zur Eindeutigkeit von h.

Da die Transversale PQ völlig beliebig gewesen ist, darf man die obige Behauptung für jede Transversale PQ (mit Q auf g) in Anspruch nehmen. Weiter folgt aus der Gleichheit der Stufenwinkel unschwer diejenige der Wechselwinkel.

Nun bilde man mit der Transversalen PQ und ihren Endpunkten P und Q sowie mit einem von Q verschiedenen Punkt Q' auf g das Dreieck PQQ'. Dann sieht man direkt mit Hilfe der eben hergeleiteten Aussagen über die Stufen- und Wechselwinkel an g und h ein, dass dieses Dreieck die Winkelsumme 2R besitzt. Folglich besitzen nach Legendre 2 alle Dreiecke diese Winkelsumme, was seinerseits äquivalent ist zum Parallelenaxiom in seiner Playfairschen Form.


Schließlich sei noch erwähnt, dass man unschwer folgenden Satz beweisen kann, der in eine ähnliche Richtung wie der zweite Legendresche Satz geht: Ist die Winkelsumme im Dreieck konstant, so beträgt sie zwei Rechte. Anders gesagt ist nur in der Euklidischen Geometrie die Form unabhängig von der Größe. Das hat im späten 19. und im 20. Jh. Anlass zu allerlei Spekulationen gegeben (vgl. etwa Volkert, K.: Zur Rolle der Anschauung in mathematischen Grundlagenfragen: Die Kontroverse zwischen Hans Reichenbach und Oskar Becker über die Apriorität der euklidischen Geometrie. In: Hans Reichenbach und die Berliner Gruppe, hg. von L. Danneberg u.a. [Braunschweig - Wiesbaden: Vieweg, 1994], 275 - 293).



5 Die Entdeckung der nichteuklidischen Geometrie


Wenn im Folgenden von der nichteuklidischen Geometrie gesprochen wird, meint das stets - es sei denn, es wird ausdrücklich anders gesagt - die hyperbolische Geometrie. Das ist diejenige Geometrie, in der es mehr als eine Parallele (nicht schneidende Geraden) gibt und die Hypothese des spitzen Winkels gilt. Genauer gesagt gehen wir nicht mehr vom PP in seiner Form nach Playfair (Zu jedem Punkt P und zu jeder Geraden g, die P nicht enthält, gibt es genau eine Parallele h durch P.) aus, sondern von seiner Negation: Es gibt einen Punkt P und eine Gerade g, welche P nicht enthält, durch den es mindesten zwei nicht-identische Geraden h und h' gibt, welche g nicht schneiden. Hieraus folgt sofort, wie schon mehrfach erwähnt, dass es unendlich viele, g nicht schneidende Geraden durch P gibt, sowie die Tatsache, dass die fragliche Aussage für jeden Punkt P und jede P nicht enthaltende Gerade g gilt.

Die Geometrie, die sich hieraus ergibt, ist neben der Euklidischen Geometrie die einzige Erweiterung der absoluten Geometrie um eine Negation des PP, welche nicht zu Widersprüchen führt. Die andere Alternative zur Euklidischen Geometrie, die sogenannte elliptische Geometrie, welche nahe mit der sphärischen verwandt ist (es gibt keine Parallelen, die Winkelsumme im Dreieck ist größer als zwei Rechte), unterscheidet sich von der absoluten Geometrie zusätzlich im Bereich der Anordnung. Diese Unterschiede sind es, die zu Widersprüchen führen, wenn man zur absoluten Geometrie ohne weitere Modifikationen die entsprechende Negation des PP hinzu nimmt.

Aus den Erkenntnissen, welche wir in den vorangegangen Kapiteln gewonnen haben, ergeben sich schon einige Informationen über diese neue Geometrie, denn wir haben einige Aussagen kennengelernt, welche dem PP modulo absoluter Geometrie äquivalent sind. Gilt PP nicht, sondern seine Negation, so können diese Aussagen natürlich auch nicht mehr gelten. Wir dürfen also festhalten, dass in der hyperbolischen Geometrie folgende Behauptungen zutreffen:

  1. Die Winkelsumme im Dreieck ist nicht konstant.

  2. Die Winkelsumme im Dreieck ist kleiner als zwei Rechte.

  3. Es gibt keine nicht kongruenten ähnlichen Dreiecke (und allgemeiner geradlinig begrenzte Figuren).

  4. Die Abstandslinien sind keine Geraden.

  5. Es ist nicht immer möglich, durch drei Punkte einen Kreis zu legen.

  6. Durch einen Punkt in einem Winkelfeld kann man nicht immer eine Gerade legen, welche beide Schenkel schneidet.


Wie bereits in Kapitel 4 bemerkt, kannte man auch schon im 18. Jahrhundert gewisse Teile der hyperbolischen Geometrie, wie sie etwa von Saccheri entwickelt worden waren mit dem Ziel, zu einem Widerspruch zu gelangen. Insofern kann man nicht sagen, dass die hyperbolische Geometrie durch Gauß, Lobatschewski und J. Bolyai entdeckt worden wäre. Vielmehr waren diese Mathematiker die ersten, die an die logische Möglichkeit der hyperbolischen Geometrie glaubten. (Es sind hier auch einige andere Wissenschaftler zu nennen wie Schweikart, Taurinus und Wachter, die allerdings keinerlei Wirksamkeit entfalteten und deren Positionen oft nicht genau zu klären sind [vgl. Bonola - Liebmann 1908, 65f sowie 76 - 86].) Sie entwickelten diese Geometrie unabhängig voneinander weiter und stellten fest, dass sie hierbei - ebensowenig wie in der euklidischen Geometrie - auf einen Widerspruch stießen. Damit war natürlich noch lange nicht die Widerspruchsfreiheit der hyperbolischen Geometrie gezeigt, ebenso wenig übrigens wie für die euklidische Geometrie (diese wurde damals als selbstverständlich angenommen). Doch die Tatsache, dass man trotz ausführlicher Entwicklung der Theorie keinen Widerspruch gefunden hat, zeigt eben noch lange nicht, dass es einen solchen nicht gibt! Hierbei schwingt das Problem der Unbestimmtheit und Lückenhaftigkeit der Grundlegung der absoluten Geometrie selbst mit. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts sind sämtlichen Nachfolgern Euklids keine über dessen Ideen hinausgehende Klärungen gelungen. Ein Wandel in dieser Hinsicht erfolgte erst durch die Fortschritte in der Axiomatik der Geometrie. Namen, welche man hier nennen kann, sind: M. Pasch (1843-1930; 1882 Vorlesungen über neuere Geometrie), G. Veronese (1854-1917), M. Pieri (1860-1913), G. Peano (1858-1939) und natürlich David Hilbert (1862-1943; 1899 Grundlagen der Geometrie).


5.1 Carl Friedrich Gauß (1777-1855)


Gauß scheint schon recht früh, etwa ab 1815, zu der Einsicht gelangt zu sein, dass die hyperbolische Geometrie möglich sei. (Er war zu dieser Zeit - seit 1807 bis zu seinem Tod - als Professor für Astronomie und Direktor der Sternwarte in Göttingen tätig.) Das kann man einigen Andeutungen (im Nachhinein!) entnehmen, welche sich in Rezensionen zu Beweisversuchen des PP finden, die Gauß für die Göttinger Gelehrten Anzeigen verfasste. Weiter verfügt man über unveröffentlichte Aufzeichnungen von Gauß zu diesem Thema sowie vor allem über Briefe, in denen er auf dieses Problem eingeht. Ich möchte hier nur eine Stelle aus einem derartigen Brief (an Taurinus, 8. Nov. 1824) zitieren:

Die Annahme, dass die Summe der drei Winkel kleiner sei als 180°, führt auf eine eigene, von der unsrigen (Euklidischen) ganz verschiedenen Geoemtrie, die in sich selbst durchaus consequent ist, und die ich für mich selbst ganz befriedigend ausgebildet habe, ... Die Sätze jener Geometrie scheinen zum Teil paradox und dem Ungeübten ungereimt; bei genauerer ruhiger Überlegung findet man aber, dass sie an sich durchaus nichts unmögliches enthalten. ... Alle meine Bemühungen, einen Widerspruch, eine Inconsequenz in dieser Nicht-Euklidischen Geometrie zu finden, sind fruchtlos gewesen, und das einzige, was unseren Verstand darin widersteht, ist, dass es, wäre sie wahr, im Raume eine an sich bestimmte (obwohl uns unbekannte) Lineargröße geben müßte. Aber mir deucht, wir wissen, trotz der nichtssagenden Wort-Weisheit der Metaphysiker eigentlich zu wenig oder gar nichts über das wahre Wesen des Raumes, als dass wir etwas uns unnatürlich vorkommendes mit absolut unmöglich verwechseln dürfen. Wäre die Nicht-Euklidische Geometrie die wahre, und jene Konstante in einigem Verhältnis zu solchen Größen, die im Bereich unserer Messungen auf der Erde oder am Himmel liegen, so ließe sie sich a priori ausmitteln.


Umfangreiches Material zu Gauß findet man im achten Band von dessen Werken, den Paul Stäckel bearbeitet hat, einer der besten Kenner der Geschichte der nichteuklidischen Geometrie überhaupt. Stäckel war es auch, der das wissenschaftliche Tagebuch von Gauß wiederfand (bei einem von dessen Enkeln in Gotha) und damit der Gauß-Forschung ein Dokument von unschätzbarem Wert zugänglich machte. Stäckel war übrigens eine Zeit lang Professor der Mathematik in Heidelberg von 1913 bis zu seinem Tode 1919.


Obwohl Gauß es tunlichst vermied, sich zum Thema nichteuklidische Geometrie (dieser Terminus geht auf ihn zurück) öffentlich zu äußern, hat er doch eine sehr wichtige Rolle bei der Durchsetzung dieser Geometrie gespielt. Erst als in den Jahren 1860 bis 1865 sein Briefwechsel mit dem Altonaer Astronomen Schumacher veröffentlicht wurde, der viele klare Aussagen zu dieser Frage enthielt, kam die Diskussion um die nichteuklidische Geometrie ins Rollen. Von den Arbeiten der beiden anderen Begründer, Bolyai und Lobatschewski, die zwischen 1829 und 1856 erschienen waren, nahm zuvor niemand Notiz (außer Gauß natürlich). Erst die Autorität von Gauß vermochte die wissenschaftliche Welt dazu zu bewegen, sich mit dieser Angelegenheit auseinander zu setzen. In den frühen Veröffentlichungen zu diesem Thema nach 1865 fehlt denn auch nie ein ausführlicher Hinweis auf die Tatsache, dass Gauß schon an die Möglichkeit einer nichteuklidischen Geometrie geglaubt habe, wie sein Briefwechsel mit Schumacher belege.

So heißt es beispielsweise in der Einleitung zu dem bereits erwähnten Buch von R. Baltzer (Die Elemente der Mathematik, Band 2) 1867 - übrigens die erste systematische Darstellung der Geometrie unter Berücksichtigung der Erkenntnisse der nichteuklidischen Geometrie:

Erst durch die Veröffentlichung von Gaußen's Briefen an Schumacher ist die ungelöst beigelegte Frage wieder auf die Tagesordnung gebracht worden, Aus diesen Briefen erfährt man, dass Gauß frühzeitig den Sitz der Schwierigkeiten erkannt hat, dass auf den bisherigen Wegen das alte Kreuz der Geometrie nicht überwunden werden kann, dass man etwas zu beweisen gesucht hat, was sich nicht beweisen läßt sondern durch Erfahrung entschieden wird, und dass Lobatschewsky den richtigen Weg mit Erfolg eingeschlagen hat. Zugleich ist durch Gerling die auf dasselbe Ziel gerichtete und nicht minder gelungene Arbeit Bolyai's der Vergessenheit entrissen worden.


Die Moral dieser Geschichte könnte man so formulieren: Der beste mathematische Beweis nutzt nichts, wenn keiner bereit ist, ihn zu studieren.



5.2 Lobatschewski und Bolyai


Das Verdienst der Erstveröffentlichung der neuen Geometrie kommt Nikolaus Lobatschewski (1793 - 1856) und Johann (= Janos) Bolyai (1802-1860) zu. Während aber der letztere als Reaktion auf die vollständige Ignorierung seiner Arbeit Appendix, scientiam spatiii absolute veram exhibens, welche 1832 als Anhang zu einem zweibändigen Mathematiklehrbuch seines Vaters Tentamen iuventutem studiosam in elementa matheseos ... introducendi ... erschienen war, nie wieder etwas zu diesem Thema im Druck veröffentlichte, bemühte sich Lobatschweski durchaus, seine Erkenntnisse der wissenschaftlichen Allgemeinheit zugänglich zu machen. Nach einer ersten Publikation in russisch (Über die Anfangsgründe der Geometrie), welche in einer kleinen, schwer aufzufindenden Zeitschrift (dem Kasaner Boten) 1829 geschah, schrieb er 1837 eine größere Darstellung mit dem Titel Géométrie imaginaire (das ist natürlich eine Anspielung auf die von Descartes 1637 eingeführte Charakterisierung imaginaire [im Sinne von „bloss vorgestellt“] für die komplexen Zahlen) für das Crelle-Journal in französischer Sprache. 1840 folgten in deutscher Sprache die Geometrischen Untersuchungen zur Theorie der Parallellinien (als Buch in Berlin erschienen; ihm werden wir im weiteren in etwa folgen) und schließlich 1856 parallel in russisch und französisch die Pangéométrie (Kasan, ebenfalls als Buch). Dabei bedeutet Pan soviel wie umfassend (vgl. etwa die Begriffsbildung Panslawismus).

Lobatschewski verbrachte fast sein gesamtes Leben in Kasan, wo er als Professor der Mathematik sowie zeitweise auch als Rektor der Universität wirkte. Bolyai hingegen war Offizier in der österreichischen Armee, wurde aber früh pensioniert und lebte fortan als Privatgelehrter in Siebenbürgen. Auffallend ist, dass beide Forscher gewissermaßen am Rande der wissenschaftlichen Gemeinschaft lebten, was sicher mit dazu beigetragen hat, dass ihre Einsichten keine Beachtung fanden.


Ich möchte im folgenden einige Punkte aus Lobatschewskis Ansatz vorstellen. Versucht man diesen allgemein zu charakterisieren, so fallen zwei Aspekte auf: Lobatschewski orientierte sich stark an der Analogie zur sphärischen Geometrie und arbeitete viel mit analytischen Hilfsmitteln (insbesonder auch aus der Trigonometrie).

Seine Definition des Begriffes parallel ist bahnbrechend:

Wenn eine Gerade und ein Punkt in der Ebene gegeben ist, nenne ich Parallele zur gegebenen Geraden, gezogen durch den gegebenen Punkt, die Grenzgerade zwischen denjenigen unter den Geraden (die in derselben Ebene durch denselben Punkt gezogen sind und auf der einen Seite des von diesem Punkt auf die gegebene Gerade gefällten Lotes verlängert sind, welche sie schneiden), und denen, welche sie nicht schneiden. (Lobatschewski 1902, 6f)


Da man sich unschwer überlegt, dass es keine letzte nicht schneidende Gerade in der geschilderten Situation geben kann, muss die Parallele im Sinne von Lobatschewski die erste, auf der fraglichen Seite des Lotes gelegene nicht schneidende Gerade sein. Da es auf beiden Seiten eine derartige Parallele gibt, hat man also die folgende Situation:

Die Geraden, welche im Winkelraum zwischen den beiden Parallelen liegen, nennt man auch Überparallelen; sie sind bezüglich der vorgegebenen Geraden ebenfalls nicht schneidend (überlegen wir uns gleich noch genauer). In der hyperbolischen Geometrie gibt es also unendlich viele nicht schneidende Geraden.

Mühsam ist, dass man in der hyperbolischen Geometrie oft die beiden Seiten (sprich: Halbebenen) bezüglich des Lotes unterscheiden muß (man sagt auch: Seiten des Parallelismus). Wir wollen im folgenden etwas großzügig sein und von der linken und der rechten Seite sprechen, wenn keine Mißverständnisse zu befürchten sind. In dieser Ausdrucksweise gibt es also auf der linken und auf der rechten Seite jeweils eine Parallele, die wir auch kurz die linke bzw. die rechte Parallele nennen werden.

Exkurs: Lobatschewski verwendet den anschaulichen Begriff Grenzgerade, ohne ihn näher zu begründen. Das ist nicht erstaunlich, denn hier spielt ja die Anordnung eine Rolle, ein Problemgebiet, das erst viel später im 19. Jahrhundert in Angriff genommen worden ist. Um den Begriff erste nicht schneidende Gerade zu präzisieren, empfiehlt es sich, eine Ordnung auf den Halbgeraden, welche durch den fraglichen Punkt gehen und in einer der beiden Halbebenen bezüglich des Lotes liegen, einzuführen. (Dabei schließen wir in beiden Fällen das Lot selbst, also den Rand der Halbebenen, ein.) Hierzu betrachten wir das (Bogen-) Maß des Winkels, welchen die betreffende Halbgerade mit dem Lot einschließt, und nennen diejenige Halbgerade größer, welche den größeren Winkel einschließt. Dabei beschränken wir die zulässigen Winkel auf den Bereich 0 bis /2. In der solcherart geordneten Menge der Halbgeraden (durch einen Punkt, in einer Halbebene) definieren wir zwei Mengen:

U enthalte alle Halbgeraden aus dieser Menge, welche die vorgegebene Gerade schneiden;

V enthalte alle Halbgeraden aus dieser Menge, welche die vorgegebene Gerade nicht schneiden.

U und V sind beide nicht leer (in U liegt beispielsweise das Lot selbst; in V das Doppellot).

Ersichtlich ist die Vereinigung von U und V die ganze Menge, während ihr Durchschnitt leer ist. Wenn wir uns nun noch davon überzeugen, dass jedes Element aus U kleiner ist als alle Elemente aus V (im Sinne der eingeführten Ordnung), so haben wir es mit einem Dedekindschen Schnitt zu tun. Um dies sicherzustellen, genügt es, folgendes zu beweisen: Ist p eine Halbgerade, welche die vorgegebene Gerade g nicht schneidet, so gibt es keine schneidende Halbgerade h, welche größer ist als p. Würde nämlich der „obere“ Strahl h die Gerade g schneiden, so müsste h auch p schneiden, folglich hätten h und p zwei Punkte gemeinsam, was nicht möglich ist.

Da die Menge der Halbgeraden mit der eingeführten Ordnung ordnungstreu isomorph zum Intervall 0 bis /2 der reellen Zahlen ist, ist sie vollständig. Folglich muß der soeben definierte Dedekindsche Schnitt entweder in U ein letztes oder aber in V ein erstes Element enthalten. Da ersteres unmöglich ist, muß letzteres der Fall sein.

Der Winkel, den die Parallelen mit dem Lot - das man damals oft auch als Perpendikel bezeichnete - einschließen, nennt Lobatschewski den Parallelwinkel:


Ich bezeichne diesen Winkel mit (p), weil er von der Länge [p] des Lotes abhängt. In der gewöhnlichen Geometrie hat man immer (p) gleich einem rechten Winkel für jede Länge von p. In der Pangeometrie durchläuft der Winkel (p) alle Werthe von Null an, welcher Werth p = entspricht, bis zu (p) gleich einem rechten Winkel, für p = 0. (Lobatschewski 1902, 7)

Man kann den Parallelwinkel auch als Grenzwert charakterisieren. Genauer: Sind P und g wie üblich gegeben, so fälle man von P das Lot auf g; dessen Länge bezeichnen wir mit p und seinen Fußpunkt mit L. Dann nehmen man auf g einen Punkt Q und bilde das Dreieck PLQ.


Der Parallelwinkel ergibt sich dann, wenn Q entlang g ins Unendliche wandert. Dabei muß Q natürlich in der Halbebene bleiben, in der es ursprünglich lag. Diese Konstruktion läßt sich symmetrisch bezüglich des Lotes in der anderen Halbebene durchführen, indem man den Punkt Q' nimmt, der denselben Abstand von L wie Q hat. Die Dreiecke PLQ und PLQ' sind kongruent.

Eine völlig analoge Überlegung zeigt auch, dass der Parallelwinkel (p) nur von der Länge p des Perpendikels und nicht etwa noch von dessen Lage in der Ebene abhängt. Nimmt man nämlich zwei gleichlange aber verschiedene Perpendikel PL und P'L' nebst den zugehörigen Parallelwinkeln (p) und (p'), so führt jeder Winkel < (p), den man in P an PL in der Halbebene, in der der Parallelstrahl liegt, abträgt zu einem Schnittpunkt S mit dem in L beginnenden Strahl. Dann kann man die Strecke LS auf dem in L' beginnenden Strahl abtragen und so ein kongruentes Dreieck P'L'S' erhalten. Folglich ist gezeigt, dass man für jedes < (p) auch in P' einen schneidenden Strahl erhält. Also muß (p) (p') sein. Kehrt man die Argumentation um, geht man also von P'L' aus, so erhält man die Beziehung (p') (p), was insgesamt zur Gleichheit der beiden Parallelwinkel führt.


Bevor wir die Funktion (p) näher untersuchen, müssen wir die Grundlage für die hyperbolische Geometrie in Gestalt des Parallelenaxioms von Lobatschewski legen:


Zu jeder Geraden g und jedem Punkt P, der mit dieser nicht inzidiert, gibt es genau zwei Parallelen.


Es genügt, in obigem Axiom von einer Geraden und einem Punkt zu sprechen (vgl. auch 4.3). Es lautet dann: Es gibt eine Gerade g und einen Punkt P nicht auf g, durch welchen zwei Parallelen zu g gehen


Es stellt sich heraus, dass die Funktion (p) injektiv ist und dass sie sich durch die Festsetzung

(p) + (-p) =

auch auf negative Werte für p ausdehnen läßt. Insgesamt erhält man eine bijektive Funktion von den reellen Zahlen in das offene Intervall von 0 bis /2. Diese lässt sich umkehren. Man erhält dann die Funktion , welche einem Winkel aus dem angegebenen Bereich die entsprechende Perpendikellänge zuordnet:

() = p.

Ähnlich wie in der sphärischen Geometrie kann man folglich in der Pangeometrie (die wir im weiteren im Anschluß an F. Klein in der heutigen gängigen Weise als hyperbolische Geometrie) bezeichnen wollen, Streckenlänge durch Winkel ersetzen (in ersterer waren dies die Zentriwinkel, in der hyperbolischen handelt es sich um Parallelwinkel).


Im weiteren wollen wir einige Sätze über die Parallelitätsrelation studieren, um einen gewissen Eindruck von den Schwierigkeiten zu bekommen, welche die Parallelität in der hyperbolischen Geometrie bietet. Dabei ist es zweckmäßig, die Parallelitätsrelation auf Halbgeraden zu beziehen, die in ein und derselben Halbebene bezüglich des vorgegebenen Lotes liegen, also nur von rechtem oder nur von linkem Parallelismus zu reden.

b (links-)parallel a bedeutet also, dass b der erste Strahl durch den vorgegebenen Punkt P nicht auf g ist, welcher die Halbgerade a, die vom Lot von P auf g in der linken Halbebene erzeugt wird, nicht schneidet. Analog gibt es den Begriff rechtsparallel.

Soweit Missverständnisse nicht zu befürchten sind, werden wir im weiteren die Zusätze rechts und links weglassen. Man beachte ferner, dass die Rollen von a und b hier nicht austauschbar sind: Die Tatsache, dass aus b parallel a auch a parallel b folgt, bedarf eines Beweises (vgl. unten Satz 2). Im folgenden werden Halbgeraden mit a, b, c usw., Geraden dagegen mit g. h. k usw. bezeichnet.


Satz 1: Der Parallelismus zwischen b und a bleibt erhalten, wenn der Anfangspunkt von b auf der Geraden, auf der b liegt, verschoben wird.


(Satz 1 rechtfertigt in gewisser Weise unseren großzügigen Umgang mit den Zusätzen rechts und links.)


Beweis von Satz 1: Es seien die Halbgeraden a und b parallel bezüglich des Lotes PL (von h auf g, wobei h die b enthaltende, g die a enthaltende Gerade sein soll). Weiter wählen wir auf h zwei Punkte P' und P'', die auf verschiedenen Seiten von P liegen sollen und fällen von diesen Punkten die Lote auf g. Die zugehörigen Lotfußpunkte mögen L' und L'' heißen.

Wir zeigen nun, dass die entsprechenden Halbgeraden parallel bezüglich der Perpendikel P'L' bzw. P''L'' sind. Offensichtlich bleibt die Eigenschaft, dass g und h sich nicht schneiden, beim Wechsel von P zu P' oder zu P'' erhalten. Fraglich ist nur, ob die Eigenschaft, die erste nicht-schneidende Halbgerade zu sein, erhalten bleibt.

Wir betrachten zuerst P'. Sei durch P' eine Halbgerade gegeben, welche mit dem Perpendikel P'L' einen kleineren Winkel als h bildet. Ist nun R ein Punkt auf dieser Halbgeraden, so verbinde man diesen mit P und verlängere die entstehende Strecke PR zur Halbgeraden PR+.

Da der Winkel LPR kleiner als der Parallelwinkel (PL) ist, muß PR+ die Halbgerade a in einem Punkt, sagen wir S, schneiden. Dann tritt aber die Halbgerade P'R in das Dreieck PLS im Inneren einer Seite ein, muß dieses also nach dem Axiom von Pasch auch wieder verlassen. Da P'R weder PR ein zweites Mal noch PL schneiden kann (im letzteren Fall müßte nämlich P'R das Perpendikel P'L' in einem zweiten Punkt [neben P'] schneiden), muß es folglich a schneiden, was zu beweisen war.

Nun betrachten wir eine Halbgerade, welche in P'' beginnt und mit dem Perpendikel P''L'' einen Winkel bildet, der kleiner ist als der Winkel L''P''P. Dann muß dieser Strahl entweder die Strecke L''L schneiden (in diesem Falle sind wir schon fertig), oder aber das Perpendikel PL. Sei also T der Schnittpunkt der Halbgeraden mit PL.

Nach dem (schwachen) Außenwinkelsatz (I,16), angewendet auf das Dreieck P''TP, gilt dann: P''TP < TPP'. Nun trage man den Winkel P''TP in P an PL an. Dann muss der freie Schenkel dieses Winkels, wir nennen ihn PX, die in L'' beginnende Halbgerade a'', die die Halbegrade a enthält, schneiden, weil nämlich der angetragene Winkel kleiner als der Parallelwinkel (das ist LPP') ist. Der entstehende Schnittpunkt heiße S'. Die Halbgerade P''T tritt folglich in das Dreieck PLS' durch das Innere einer Seite ein, muss folglich nach dem Axiom von Pasch eine weitere Seite dieses Dreiecks schneiden. P''T kann aber wegen der Gleichheit der Stufenwinkel L''P''T und LPS' nach I,28a die Halbgerade PS'+ nicht schneiden. Ebensowenig kann ein zweiter Schnittpunkt mit PL entstehen, weshalb PT die Halbgerade a schneiden muss. Das war aber zu beweisen.

Also haben wir gezeigt, dass jede in P' bzw. P'' beginnende Halbgerade, welche mit dem Lot P'L' bzw. P''L'' einen kleineren Winkel als h bildet, die Gerade g auf der richtigen Seite schneidet. Also ist h in beiden Fällen die erste nicht schneidende Halbgerade. Da P' und P'' beliebig gewählt waren, haben wir damit bewiesen, dass die Parallelität unabhängig von der Wahl eines bestimmten Punktes ist.


Erstaunlich mühsam ist der bereits angekündigte Beweis der doch so einfach anmutenden Aussage von Satz 2.

Satz 2: Ist b parallel a, so auch a parallel b.

.

Beweis: In Anbetracht des gerade erzielten Ergebnisses können wir ohne das entsprechende Lot zu spezifizieren von zwei parallelen Halbgeraden a und b ausgehen. Auf a nehmen wir einen Punkt A, auf b einen Punkt B. Diese verbinden wir. Sodann nehmen wir die Winkelhalbierenden der entstehenden Winkel bei A und bei B. Diese müssen sich in einem Punkt C schneiden. Von C fälle man die Lote auf a (Lotfußpunkt sei D), auf b (Lotfußpunkt sei E) und auf AB (Lotfußpunkt sei F).

Wir werden jetzt zeigen, dass die Lote von D auf b (Mit Lotfußpunkt G) und von E auf a (Lotfußpunkt sei H) und dass die Winkel HEG und GDH kongruent sind. Damit ist dann die Aussage bewiesen.

Nach dem Kongruenzsatz SWW (I,26b) sind die Dreiecke ADC und AFC sowie BEC und BFC kongruent, folglich auch die Seiten CD und CF sowie CE und CF. Also sind auch CD und CE kongruent. Verbindet man nun D mit E, so erhält man ein gleichschenkliges Dreieck CDE. Nach I,5 ist dieses auch gleichwinklig: CED CDE. Damit sind auch die zugehörigen Nebenwinkel EDH und DEG kongruent. Folglich sind (wieder nach SWW [=I,26b]) auch die Dreiecke EDH und DEG kongruent. Also gilt der erste Teil unserer Behauptung von oben (Kongruenz der Lote). Die Kongruenz der Winkel folgt aus DEH EDG und der Rechnung

HEG DEG - DEH EDH - EDG GHD.


Um diesen Beweis zu vervollständigen, muß man noch nachweisen, dass der Winkel DCE kein gestreckter Winkel ist und dass sein Winkelfeld auf der Seite der Halbgeraden a und b liegt. Dies sieht man ein, indem man in E einen spitzen Winkel an CE auf der Seite, auf der b liegt, anträgt. Dessen freier Schenkel muß dann die Halbgerade a in einem Punkt L schneiden. Ist der angetragene Winkel gleich , so ist LCE < - und DCL < (CD). Wählt man somit > (CD), so sind diese beiden Winkel zusammen kleiner als .


Satz 3: Ist c parallel b und b parallel a, so auch ist c parallel zu a.


(Oberflächlich betrachtet sieht der Satz 3 haargenau so aus wie Euklids Satz I,30. Man muss jedoch berücksichtigen, dass hier ein anderer Parallelitätsbegriff verwendet wird als bei Euklid.)


Beweis: Wir müssen zwei Fälle unterscheiden: b liegt zwischen a und c sowie c liegt zwischen a und b. Beginnen wir im ersten Fall damit, dass wir auf c einen Punkt C wählen und von diesem das Lot auf a mit Lotfußpunkt A fällen. Da die Halbgerade c unter den gegebenen Voraussetzungen sicher nicht die Halbgerade a schneiden kann (sie müsste dann ja zuerst b schneiden), müssen wir nur noch zeigen, dass jede auf der Seite von c liegende Halbgerade, die in C beginnt und mit dem Lot CA einen kleineren Winkel als den Parallelwinkel bildet, die Halbgerade a schneidet. Sei d eine solche Halbgerade, wobei der Winkel zwischen CA und d gleich sei. Weiter fälle man von C das Lot auf b mit Lotfußpunkt B.

Liegt nun d im Winkelraum zwischen CB und c, so muß d die Halbgerade b in einem Punkt S schneiden, da ja c und b parallel sind und der eben genannte Winkel gerade der entsprechende Parallelwinkel ist. Fällt aber d in den Winkelraum zwischen CA und CB, so muß es erst recht b schneiden, weil d in das Innere des Dreiecks CBB' eintritt (B' ist der Schnittpunkt von CA und b). Sollte das Lot CB nicht in den Winkelraum zwischen CA und c fallen, so folgt die Existenz des Schnittpunktes S ebenfalls direkt. Also existiert immer ein Schnittpunkt S von d mit b.

(Man kann sich allerdings, Kenntnisse über die Parallelwinkelfunktion [vgl. Satz 4 unten] vorausgesetzt, überlegen, dass der Winkel zwischen CA und c kleiner sein muß als jener zwischen CB und c. Folglich muß man dann den entsprechenden Fall gar nicht mehr diskutieren [wie Perron dies ohne Begründung tut]).

Nun fälle man von S das Lot auf a mit Lotfußpunkt T. Da d in dem Winkelraum zwischen b und dem Lot SS' zu liegen kommt, muß es wegen b parallel a auch a schneiden. Was zu beweisen war.

Im zweiten Fall nehmen wir auf a einen Punkt A und ziehen durch diesen den Parallelstrahl a' zu c in der Halbebene, in der a, b und c liegen. Wie im ersten Fall bewiesen, gilt dann wegen c parallel b auch a' parallel b. Andererseits ist aber b parallel a nach Voraussetzung und damit nach Satz 1 auch a parallel b. Da a und a' in derselben Halbebene liegen sollen, müssen diese Halbgeraden identisch sein. Also ist auch a parallel c und wieder nach Satz 1 c parallel a. Was zu beweisen war.


Wir können nun einige Eigenschaften der Funktion (x) ableiten.


Satz 4: Die Funktion (x) ist streng monoton fallend.

Beweis: Wir betrachten die in der Abbildung dargestellte Situation, wobei QL senkrecht auf a stehen soll und b bzw. b' die Parallelen zu a auf der rechten Seite durch Q bzw. Q' sind. Weiter seien und ' die zugehörigen Parallelwinkel.

Angenommen, es wäre ' > . Man trage in Q' den Winkel an QL auf der rechten Seite an. Dann müsste der freie Schenkel dieses Winkels wegen ' > den Strahl a, also auch den Strahl b, schneiden, was in Widerspruch zu I,28 steht (Stufenwinkel am freien Schenkel und an b sind gleich).

Angenommen, es wäre ' = . Man halbiere die Strecke QQ' in M und fälle von M die Lote auf die Verlängerung von b sowie auf b'.

Bezeichnen N und N' die entsprechenden Lotfußpunkte, so sind die Dreiecke MN'Q' und MNQ kongruent (nach I,26b). Also wären die Winkel QMN und Q'MN' kongruent. Folglich lägen die Lote MN und MN' auf einer Geraden und die beiden Parallelen b und b' hätten ein gemeinsames Lot. Das ist aber unmöglich, da b und b' nach Satz 3 auch zueinander parallel sind (der rechte Winkel in N' wäre dann Parallelwinkel von b' bezüglich des Lotes N'N, was dem Axiom von Lobatschewski widerspricht).


Die letzte Einsicht kann man auch so formulieren: Nach Euklid I,32 ist das Doppellot gewiß nicht schneidend. In der hyperbolischen Geometrie erhält man aber so immer eine Überparallele und keine Parallele.


Satz 5: Für x gegen 0 strebt (x) gegen /2.

Beweis: Wir zeigen, dass (x) > /2 - für genügend kleines und x genügend klein. Hierzu nehmen wir den Winkel /2 - , sein Scheitelpunkt sei S, und fällen von einem Punkt R des einen Schenkels dieses Winkels das Lot auf den anderen. Der hierbei entstehende Lotfußpunkt sei Q. Da die Strahlen SR+ und SQ+ einander schneiden, muß der zu QR+ parallele Strahl durch S mit dem Perpendikel SQ einen Winkel größer als /2 - bilden. somit ist (SQ) > /2 - , also erst recht (nach Satz 4) für alle x > SQ (x) > /2 - .


Satz 6: Die Funktion (x) ist stetig.

Beweis: Siehe Perron 1962, 35.

Satz 7: Für x gegen strebt die Funktion (x) gegen 0.

Beweis: Siehe Perron 1962, 35 - 37.


Wir wollen jetzt im Anschluss an Lobatschewskis Überlegungen eine analytische Darstellung für die Funktion (p) herleiten. Dabei werden wir eine Formel verwenden, welche sich gemäß der von Lambert entdeckten Analogie zur sphärischen Geometrie ergibt. Diese werden wir nicht beweisen, insofern darf die nachfolgende Herleitung nicht als komplett verstanden werden. Eine komplette Herleitung findet man bei Perron 1962, 68 - 76.

Zum Zwecke der Herleitung gehen wir von einem rechtwinkligen Dreieck ABC wie abgebildet aus.

Die beiden nicht rechten Winkel bei A beziehungsweise bei C sind spitze Winkel (die Winkelsumme im Dreieck kann ja nach Legendre 1 nicht größer als zwei Rechte sein), lassen sich also als Parallelwinkel (p) und (q) von Strecken positiver Länge auffassen.

Andererseits kann man die Strecke AB als Perpendikel zu der Halbgeraden a, auf der die Strecke BC liegt, auffassen. Also trage man in A an AB in der Halbebene ABC+ den zu AB = c gehörigen Parallelwinkel (c) an. Dessen freier Schenkel m schneidet die Halbgerade a nicht. Schließlich trage man auf der Verlängerung von AC über C hinaus die Strecke der Länge q ab; im entstehenden Endpunkt D errichte man die Senkrechte l, welche in derselben Halbebene wie m und die Verlängerung von BC liegt. Dann schneiden sich die Verlängerung von BC und l nicht, weil nach dem Scheitelwinkelsatz ACB = (b+,a+) [b+ und a+ bezeichnen hier die Halbgeraden, auf denen die entsprechenden Dreiecksseiten liegen] gilt und ACB = (q) war.

Nach Satz 3 folgt aus m parallel a+ und a+ parallel l, dass m parallel l ist. Folglich ist (m,b) = (b+q). Schließlich ist nach Konstruktion (m,c) = (c).

Hieraus ergibt sich für die Differenz

(m,c) - (m,b) = (c) - (b+q).

Auf der linken Seite steht nichts anderes als der Winkel BAC oder (p). Somit erhält man die Gleichung

(*) (c) = (p) (b+q)

Trägt man q auf AC von C aus ab, so bekommt durch analoge Überlegungen wie eben die Gleichung

(**) (c) = (b-q) - (p)

Durch Umformen von (*) und (**) erhält man schließlich die beiden Gleichungen

(c) = (1/2) (b+q) + (1/2) (b-q)

(p) = (1/2) (b-q) - (1/2) (b+q)


Nun benötigen wir einen Hilfssatz über das rechtwinklige hyperbolische Dreieck, nämlich:

cos (b) = cos (c)/cos (p)

(Ein analoger Satz gilt in der sphärischen Geometrie auch.)

Setzt man auf der rechten Seite die oben gefundenen Ausdrücke ein, so ergibt sich


cos (b) = cos [(1/2) (b+q) + (1/2) (b-q)] /

cos [(1/2) (b-q) + (1/2) (b+q)]


oder nach einer bekannten Formel der Trigonometrie


tan2((1/2)(b)) = (tan ((1/2)(b+q))(tan ((1/2)(b-q)) .


Setzt man nun b = q, 2q, 3q, ..., -q, -2q, -3q, ... so ergibt sich schließlich durch vollständige Induktion

tann((1/2)(b)) = tan (1/2)(nb)

Damit haben wir eine Funktionalgleichung vom Typ f(x))n = f(nx) erhalten. Eine stetige Lösung hierfür ist die Funktion exp(kx). Da (x) streng monoton fällt, kommt für k nur eine negative Zahl in Betracht; also wäre eine Lösung exp (-x). Hiermit bekommen wir

tan ((1/2)(x)) = exp(-x)

oder auch (x) = 2arctan (exp (-x)).

Weiter ergeben sich die Beziehungen

sin (x) = 2/(exp (x) + exp (-x)) = sinh (x)

und

cos (x) = (exp (x) - exp (-x))/(exp (x) + exp (-x)) = cosh (x)

Für die Umkehrfunktion () findet man den Ausdruck

() = ln (cot (/2).



Aus der hergeleiteten Gestalt der Funktion (x) folgt die Existenz eines absoluten Längenmaßes in der hyperbolischen Geometrie. Darunter versteht man eine Strecke, die eine ähnliche Rolle spielt wie der Vollkreis für die Winkelmessung in der gewöhnlichen Geometrie. Das heißt, es geht um eine Länge, auf die man in natürlicher Weise alle anderen Längen beziehen kann und die sich durch ihre geometrische Bedeutung auszeichnet. Es ist dies diejenige Länge, für die sich exp (-1) ergibt, deren Parallelwinkel also gleich 2 arctan (exp(-1)) ist. Der zugehörige Parallelwinkel ist etwa 41,9° groß.

Das Gesagte ist natürlich nur richtig unter der Voraussetzung, dass der Parameter k gleich 1 gesetzt wird. Dieser Parameter war es, den Gauß in seinem in 5.1 zitierten Brief an Taurinus im Auge hatte. Seine Natur konnte erst wesentlich später (Beltrami, 1869) geklärt werden: Er gibt im wesentlich die Krümmung (im Sinne der Differentialgeometrie) der Fläche an, auf der die hyperbolische Geometrie angesiedelt ist.

Aber schon Lobatschewski machte sich Gedanken um dessen Wert. Hierzu betrachtete er das rechtwinklige Dreieck bestehend aus der Erde C, dem Mittelpunkt der Erdbahn B und dem Sirius A. Mit Hilfe der jährlichen Parallaxe des Sirius gelang es ihm dann, eine Abschätzung für den Defekt des betrachteten Dreiecks zu ermitteln. Er fand, dass dieser höchstens 0'',43 betragen könne, was damals jenseits aller Meßgenauigkeit lag (vgl. Bonola - Liebmann 1908, 98f).


Wir wollen nun noch zwei wichtige Kennzeichen der hyperbolischen Geometrie erwähnen, deren Beweis nach den vorangegangenen Bemerkungen recht einfach ist.


Satz 7: Die Winkelsumme im hyperbolischen Dreieck ist stets kleiner als zwei Rechte.

Beweis: Nach Legendre 1 kann die Winkelsumme nicht größer als zwei Rechte sein; wäre sie auch nur in einem Dreieck gleich zwei rechten, so würde aber das euklidische Parallelenaxiom nach Legendre 2 nebst Folgerungen gelten.


Satz 8: In der hyperbolischen Geometrie gilt der Kongruenzsatz WWW.

Beweis: Ergibt sich unmittelbar aus den Überlegungen, welche wir im Anschluss an den Beweisversuch von Wallis angestellt haben. Diese zeigten uns, dass die Existenz ähnlicher Dreiecke die Geltung des Winkelsummensatzes in mindestens einem Dreieck, also das euklidische Parallelenaxiom zur Folge hat.


Die Kongruenzgeometrie der hyperbolischen Geometrie unterscheidet sich somit von der euklidischen, allerdings nur dadurch, dass ein Kongruenzsatz zusätzlich hinzukommt. Alle Aussagen, in deren Beweis nur die gewöhnlichen Kongruenzsätze eingehen, gelten deshalb auch hyperbolisch.


5.3 Nichteuklidische Geometrien - eine Revolution?



Wie wir gesehen haben, war die Frage, ob das euklidische Parallelenpostulat ein ableitbarer Satz oder ein unabhängiges Axiom sei, über einen Zeitraum von 2000 Jahren Gegenstand mathematischer Überlegungen. Die zahlreichen Beweisversuche, obwohl gescheitert, haben dennoch einige interessante Ergebnisse zu Tage gefördert. Nach Gauß` ersten Überlegungen, die er (vielleicht wohlweislich und wissend, dass die Zeit noch nicht reif dafür war) im Wesentlichen für sich behielt, wurde die hyperbolische Geometrie unabhängig voneinander an verschiedenen Orten, die von den eigentlichen mathematischen Zentren und Schulen weitab lagen, ungefähr zur gleichen Zeit um 1830 entdeckt.

Doch die Ergebnisse von Bolyai und Lobatschewski blieben ohne Resonanz, was aus heutiger Sicht zunächst überrascht. Erst 1854 hat Bernhard Riemann (1826-1866; unter anderem Schüler von Gauß) in seinem Habilitationsvortrag mit dem Titel Über die Hypothesen, die der Geometrie zu Grunde liegen die Frage um die Existenz anderer Geometrien als der Euklidischen aufgegriffen. Er entwickelte eine Theorie n-dimensionaler Mannigfaltigkeiten (womit er durch die Betrachtung höherer Dimensionen als 3 auch „revolutionäres“ Neuland betrat), und betrachtet in diesem Zusammenhang den Begriff der Krümmung. Dabei ergab sich die Euklidische Geometrie als Geometrie auf einer Fläche von konstanter Krümmung Null, während die hyperbolische Geometrie eine Geometrie auf einer Fläche mit konstanter negativer Krümmung darstellte. Riemann zeigte auch, dass sich eine zweidimensionale Fläche konstanter positiver Krümmung auf die Kugeloberfläche abbilden lässt.

Die Gründe dafür, warum es auch nach Riemanns Vortrag noch mehr als ein Jahrzehnt dauerte, bis ein größerer Kreis von Mathematikern begann, die nichteuklidische Geometrie als wesentlichen Beitrag zur Entwicklung der Mathematik zu betrachten, sind vielschichtig und historisch noch nicht gründlich erforscht. An dieser Stelle mögen einige Indizien genügen.

Wir hatten schon die mangelnde Verbreitung der Resultate von Bolyai und Lobatschewski festgestellt, die sicher auch durch deren wenig zentraler Rolle in der Gemeinschaft der forschenden Mathematiker bedingt war, abgesehen von sprachlichen und anderen vermittlungstechnischen Problemen.

Wesentlich waren auch die vorherrschende erkenntnistheoretischen Überzeugungen, die durch Immanuel Kant (1724-1804) im 18. Jahrhundert geprägt worden waren und weit in das 19. Jahrhundert hinein fortwirkten. Nach Kant hat der Euklidische Raum den Charakter eine sogenannte synthetischen Apriori, was bedeutet, dass er aller Erfahrung vorausgeht.

Es gab auch die Vorstellung, dass die Euklidische Geometrie ideale Abbilder der realen Welt erzeuge, weshalb ihre Resultate als absolute Wahrheiten aufgefasst werden müssten. Tatsächlich kommt die Euklidische Geometrie der sinnlichen Wahrnehmung häufig entgegen, während es insbesondere der hyperbolischen Geometrie zunächst an Anschaulichkeit mangelte.

Neben der Tatsache, dass 1865 durch die Herausgabe von Gauß´ Tagebücher in gewisser Weise soziale Überzeugungsarbeit für die nichteuklidische Geometrie geleistet wurde -die Autorität von Gauß tat auch noch, oder gerade posthum seine Wirkung-, waren es vor allem die geometrischen Modelle der nachfolgenden Jahre, die den Etablierungsprozess der hyperbolischen Geometrie vorantrieben.

1868 zeigte Eugenio Beltrami (1835-1900), dass sich die Geometrie eines Teiles der hyperbolischen Ebene auf eine Fläche konstanter negativer Krümmung, der sog. Pseudosphäre, abbilden lässt.





Den Geraden in der hyperbolischen Ebene entsprechen dabei die geodätischen Linien.

Wenig später, im Jahr 1871, hat Felix Klein (1849-1925) in Fortführung der Arbeiten von Arthur Cayley (1821-1892) das sogenannte Calyey-Kleinsche Modell entwickelt. Die hyperbolische Geometrie wird dabei innerhalb eines Kreises der Euklidischen Ebene realisiert, wobei auf Elemente der projektiven Geometrie zurückgegriffen wird. Die hyperbolischen Punkte sind hier die Punkte im Innern der euklidischen Kreisscheibe, während den hyperbolischen Geraden alle offenen Sehnen des die Kreisscheibe begrenzenden Kreises entsprechen.





Henri Poincaré (1854-1912), der ähnlich wie Felix Klein zu den schillerndsten und vielseitigsten Mathematikern der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gehörte, hat 1880 mit zwei geometrischen Modellen, dem Halbebenen- und dem Kreisscheibenmodell (wobei hier im Gegensatz zu Cayley-Klein die Geraden den Durchmessern des Kreises K und den Kreisbögen senkrecht zu K entsprechen) zur Veranschaulichung der nichteuklidischen Geometrie beigetragen hat (für Details zu den Modellen siehe Filler 1993, dort insbesondere Abschnitt 3.3).

Präzisiert man den Begriff des Modells im Sinne der Logik, so leisten die geometrischen Modelle im strengen Sinne über die Veranschaulichung hinaus weit mehr: sie ermöglichen den Nachweis der Widerspruchsfreiheit der nichteuklidischen Geometrien. Ein Modell für eine neue Theorie interpretiert dessen Grundbegriffe als Objekte einer bereits bekannten Theorie. Zum Nachweis der Widerspruchsfreiheit der neuen Theorie ist zu zeigen, dass ihre Axiome in einer bereits bekannten Theorie gültig sind. In den oben genannten Modellen ist es immer die Euklidische Geometrie der Ebene oder des Raumes, die als Referenztheorie verwendet wird. Somit wird die Widerspruchsfreiheit der nichteuklidischen Geometrien auf die der Euklidischen Geometrie zurückgeführt. Diese wurde, wie schon erwähnt, lange Zeit nicht angezweifelt. Mittlerweile wurde gezeigt, dass auch die Euklidische Geometrie nur relativ widerspruchsfrei ist, indem sie durch die reelle Analysis modelliert werden kann.

Die Frage, ob sich die über 2000 Jahre dauernden Entwicklung der nichteuklidischen Geometrie als revolutionärer Prozess begreifen lässt, ist nicht eindeutig zu beantworten. Der lange Zeitraum, in dem sich die Herausbildung und Einbeziehung der neuen Konzepte in den Corpus der Mathematik vollzog, hat zunächst nichts revolutionäres an sich. Andererseits führten diese Konzepte letztendlich zu einer Revision der über viele Jahrhunderte vorherrschenden Vorstellungen des physikalischen Raumes und der entsprechenden philosophischen Ideen. Ebenso erhielt die Entwicklung der axiomatischen Mathematik so wie wir sie heute kennen, einen entscheidenden Entwicklungsschub.

Es sei noch erwähnt, dass die nichteuklidischen Geometrien im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts auch über den Kreis der Mathematiker hinaus lebhaft und kontrovers diskutiert wurden. In Anbetracht der Tatsache, dass wie Felix Haudorff (1868-1942) 1903 in seiner Leipziger Antrittsvorlesung über das Raumproblem bemerkte, fünf verschiedene Wissensbereiche an der Idee des Raumes interessiert sind, nämlich die Physiologie, die Psychologie, die Philosophie, die Mathematik und die Physik, verwundert das nicht.

Allerdings ist es auch heute noch eine Herausforderung, einem im axiomatischen Denken nicht geschulten, allgemein gebildeten Menschen, die der sinnlichen Wahrnehmung zunächst widersprechenden geometrischen Ideen nahezubringen, die, wie wir seit Einsteins Relativitätstheorie wissen, tatsächlich, zumindest lokal, den uns umgebenden Raum beschreiben.



Literatur:


Autolykos: Rotierende Kugel“ und „Aufgang und Untergang der Gestirne“ sowie Theodosios von Tripolis: „Sphärik“, übersetzt von A. Czwalina (Leipzig: Akademische Verlagsgeselschaft, 1931) = Ostwald’s Klassiker Band 232.


Baltzer, R.: Die Elemente der Mathematik. Zweiter Band: Planimetrie, Stereometrie, Trigonometrie (Leipzig: Hirzel, 21867).


Bonola, R. - Liebmann, H.: Die nichteuklidische Geometrie (Leipzig und Berlin: Teubner, 1908).


Filler, A.: Euklidische und nichteuklidische Geometrie (Mannheim - Leipzig - Wien - Zürich, 1993).


Gericke, H.: Mathematik in antike und Orient (Berlin - Heidelberg - New York, 1984).


Hartshorne, R.: Geometry. Euclid and Beyond (New York u.a.: Springer, 2000).


Jaouiche, K.: La théorie des parallèles en pays d'Islam (Paris: Vrin, 1986).


Klügel, G. S. Conatuum praecipuorum theoriam parallelarum demonstrandi recensio (Göttingen, 1767) mit deutscher Übersetzung von M. Hellmann; http://www.math.uni-frankfurt.de/~volkert/mathematikgeschichte/quellen/kluegel.html


Krause, Max : Die Sphärik von Menlaos (Berlin: Weidmann, 1931) – Nachdruck Frankfurt a. M.: Institute for the History of Arabic – Islamic Sciences, 1998.


Krauter, Susanne : Der Flächeninhalt des sphärischen Dreiecks (Staatsexamensarbeit Universität Stuttgart, 1999).


Legendre, A. M.: Réflexions sur différentes manières de démontrer la théorie des parallèles ou le théorème sur la somme des trois angles du triangle (Mémoires de l'Académie Royale des Sciences de l'Institut de France. Tome XII (1833), 367 - 410).


Lobatschefskij, N.: Pangeometrie. Übersetzt und herausgegeben von H. Liebmann (Leipzig, 1902).


Perron, O.: Nichteuklidische Elementargeometrie der Ebene (Stuttgart, 1968).


Pont, J. C.: L’aventure des parallèles (Bern u.a. : Peter Lang, 1986).


Proklus Diadochus 410 - 485. Kommentar zum ersten Buch von Euklids "Elementen". Aus dem Griechischen ins Deutsche übertragen und mit textkritischen Anmerkungen versehen von P. Leander Schönberger, O.S.B., eingeleitet, mit Kommentaren versehen und in der Gesamtedition besorgt von Max Steck (Halle a. d. S., 1945).


Rosenfeld, B. A.: A History of non-Euclidean Geometry (New York u.a.: Springer, 1988).


Sohnke, L. A.: Artikel Parallellinien. In: Allgemeine Enzyklopädie der Wissenschaften und Künste. Dritte Section O - Z. Elfter Theil: Panvinikus - Parczenzew (Leipzig, 1838), 368 - 384.


Stäckel, P./Engel, Fr.: Die Theorie der Parallellinien von Euklid bis auf Gauß (Leipzig: Teubner, 1895).


Trudeau, R. J.: The Non-Euclidean Revolution (Boston - Basel -Stuttgart: Birkhäuser, 1987) – deutsche Ausgabe: Die geometrische Revolution (Basel – Boston – Berlin: Birkhäuser, 1998).