Sehr geehrter Herr Dekan Prof. Dr. Spiegel,
Sehr geehrte Frau Prof. Maack,
Sehr geehrter Herr Beutelmann,
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
ich bedanke mich sehr herzlich für die Einladung zu dieser Veranstaltung
und die Anfrage für ein Grußwort zur erstmaligen Überreichung des
Barmenia-Preises an besonders erfolgreiche Absolventinnen und Absolventen
im Bereich der Mathematik. Als wir in Düsseldorf feststellten, dass die
Preisverleihung Weiberfastnacht, nachmittags, stattfinden sollte, haben
wir zunächst nachgefragt, ob die Terminkollision bekannt sei. Ja, hieß es,
das spiele keine Rolle. Da wusste ich, ich bin wieder im Kreis von
Mathematikern.
Als Mathematikerin habe ich natürlich immer noch starke Bezugspunkte zu
meinem alten Studienfach und freue mich deshalb ganz besonders, dass ich
heute hier gerade zu diesem Thema zu Ihnen sprechen darf. Ich möchte dies
gerne unter einem speziellen Gesichtspunkt tun, nämlich der praktischen
Bedeutung der Mathematik für unser tägliches Leben.
Ich meine hier nicht, dass es z.B. für eine Ministerin durchaus sehr
hilfreich ist, wenn sie als Mathematikerin bei den immer schwieriger
werdenden Haushaltsberatungen ein besonders gutes Verhältnis zu Zahlen hat.
Der Finanzminister verpackt Mittelkürzungen für die Ressorts nämlich gern
in einer wahren Zahlenschlacht. Da ist es wichtig, den Überblick zu
behalten und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, vor allem schnell
herauszufinden, welche grundsätzliche Alternative der Mittelkürzung für das
eigene Ressort zu den geringsten Auswirkungen führt.
Hinzu kommt, dass schon Goethe in "Meisters Wanderjahren" gerade
Mathematikern eine besondere Hartnäckigkeit zugeschrieben hat. Wie bei so
vielem hat Goethe auch hier Recht.
Ich möchte mich mit der allgemeinen Rolle der Mathematik für das normale
Leben und ihrem Image befassen. Richard Hamming hat in seinem berühmten
Buch über wissenschaftliches Rechnen einmal geschrieben:
"Der Gegenstand der Rechnungen sind nicht Zahlen,
sondern Einsichten."
Er hat Recht. Es ist nicht von ungefähr, dass Mathematik früher ein Teil
der philosophischen Fakultät war.
Die Stärke der Mathematik ist es, das logische Denken und die Fähigkeit zur
Analyse zu verbessern. Sie ist abstrakt, führt jedes Problem auf seinen
Kern zurück und ist eine der reinsten Formen des Denkens. Ziel ist der
absolute Beweis, das Finden der Wahrheit schlechthin. Mathematik wird
deshalb oft als Königin der Wissenschaften bezeichnet und findet sich schon
in sämtlichen antiken Kulturen. In dem Zusammenhang sei erwähnt, dass
übrigens Euklid mit seinem Werk den "Elementen" das erfolgreichste Lehrbuch
der Welt geschrieben hat. Bis in das 19. Jahrhundert rangierte es vom
Verkauf her direkt nach der Bibel.
Mathematik schult z.B. das logische Denken, was für alle Lebensbereiche -
einschließlich der Politik - wichtig ist.
Ich möchte dies an einem etwas ketzerischen Scherz über Mathematiker
deutlich machen, der übrigens - wie Sie gleich sehen werden- auch einen
Bezug zur Landwirtschaft hat, also in meinem aktuellen Arbeitsfeld liegt.
Ein Ingenieur, ein Physiker und ein Mathematiker fuhren mit dem Zug durch
Schottland. Vom Zugfenster aus sahen sie inmitten einer Wiese ein schwarzes
Schaf stehen. "Wie interessant", bemerkt der Ingenieur, "alle schottischen
Schafe sind schwarz!" Der Physiker korrigierte ihn. "Nein, nein! In
Schottland gibt es mindestens ein schwarzes Schaf." Dem Mathematiker ist
auch diese Behauptung noch viel, viel zu gewagt. "In Schottland gibt es
mindestens eine Wiese mit mindestens einem Schaf, das mindestens von einer
Seite schwarz ist.".
Kommt Ihnen das vertraut vor? Hinter jedem Scherz steckt eine gewisse
Wahrheit. Nicht umsonst hat jedenfalls Wittengenstein einmal gesagt, dass
die Mathematik eine Methode der Logik ist. Sie werden mir allerdings
zustimmen, dass man es - wie bei allen Dingen im Leben- mit dem
mathematischen Denken auch nicht übertreiben sollte. Wenn ich jedenfalls
auf einer meiner vielen Zugfahrten zu Terminen ein parallel zum Zug
stehendes schwarzes Schaf sehe, gehe ich nach den Gesetzen der
Wahrscheinlichkeit einfach davon aus, dass es nicht einseitig weiß ist.
Wichtiger ist es nach den Maßstäben der neuen Agrarpolitik, ob es auf einer
Weidefläche grast, die den Grundsätzen ökologischer Landwirtschaft
entspricht.
Warum ist es notwendig, sich über die praktische Rolle der Mathematik
Gedanken zu machen?
Wie Sie alle wissen, hat die unlängst veröffentlichte PISA-Studie 2000
(Programme for International Student Assessment) ergeben, dass die Schüler
aus dem Geburtsland von Adam Riese im Bereich der Mathematik im
Quervergleich zu anderen europäischen Schülern enttäuschende Leistungen
gezeigt haben. Die deutschen Schüler landeten abgeschlagen auf hinteren
Plätzen, nämlich dem 20. Platz von 31 Nationen, unter dem Durchschnitt. Die
internationale Leistungsspitze wird durch die beiden ostasiatischen Länder
Japan und Korea geprägt. Mit der mathematischen Grundbildung steht es
offenbar bei uns in Deutschland leider nicht zum besten.
Ich hatte vor kurzem Gelegenheit, mich mit den Verfassern der Studie zu
unterhalten. Besonders interessant für mich war deren Analyse, dass die
Mathematikschwächen auch in einer unmittelbaren Korrelation mit den
Leseschwächen stehen. Lesen-Können ist also eine notwendige Voraussetzung
für das Erlernen mathematischer Fähigkeiten, hinreichend ist das Lesen aber
nicht.
Mathe ist leider kein Kult bei Schülern, hätte es aber verdient.
Mathematikerinnen und Mathematiker haben auf dem Arbeitsmarkt gute Chancen.
Wer zudem über fundierte Programmierkenntnisse verfügt, die durch Praktika
ergänzt werden, wird auch in Zukunft ohne große Probleme eine Stelle
finden.
Das Fach gilt zu Unrecht als staubtrocken, lebensfern und von einem
Normalsterblichen nicht zu begreifen.
Vom Mathematiker und Physiker Pascal (1623-1662), der mit 16 Jahren eine
Abhandlung über Kegelschnitte vollendete, wird berichtet, dass er als
junger Mensch Kopfschmerzen durch das Erfinden geometrischer Probleme
bekämpft hat; übrigens eine sehr kostengünstige Form der Alternativmedizin.
In der heutigen Schulwelt kann leider nicht ausgeschlossen werden, dass
manchmal eine Reihe junger Menschen gefährdet ist, das Lösen geometrischer
Probleme durch das Erfinden von Kopfschmerzen bekämpfen zu wollen.
Die beste Medizin hiergegen erscheint mir, immer wieder in der
Öffentlichkeit klar zu machen, wie spannend und für die Praxis wichtig
Mathematik ist. Wir sind - spätestens seit PISA - alle aufgerufen, hierzu
unseren Beitrag zu leisten und für die Mathematik zu werben. Mathematik ist
- das wissen wir Mathematiker - eine spannende Wissenschaft, sie ist
Bestandteil des Alltags. Dies zu vermitteln und für das Fach und sein
Studium zu motivieren, ist eine wichtige Aufgabe, die neben den Schulen
auch den Hochschulen obliegt. Eine Preisverleihung, wie sie hier heute
vorgenommen wird, ist dabei sicher auch ein wichtiger Baustein.
Wie ich weiß, unternimmt der Fachbereich Mathematik der Universität
Wuppertal aber noch mehr zur Erreichung dieses Ziels.
Vorträge für Schüler unter dem Sammelbegriff "Mathematisches Kaleidoskop"
in diesem Wintersemester und im nächsten Semester an Ihrer Universität
anzubieten, finde ich ganz hervorragend.
Ich kann Sie zu dieser Idee und diesem übrigens auch in der Praxis sehr gut
angenommenen Projekt nur beglückwünschen. Es weist genau in die richtige
Richtung, wenn ich an das erwähnte Beispiel von Pascal und die
Kopfschmerzen denke. So werden an Ihrer Universität für die Schüler in
diesem Semester z.B. auch Vorträge über hyperbolische Geometrie gehalten.
Meine fachlichen Bezüge als Ministerin zur Geometrie sind übrigens größer
als Sie denken. Schließlich bedeutet das Wort Geometrie Vermessung der
Erde, und genau dies tun z.B. die mir unterstellten Ämter für Agrarordnung.
Dies sei nur am Rande erwähnt. Ich habe aber auch einen Bezug über mein
damaliges Studium. Prof. Bachmann, einer der großen Deutschlands in der
Geometrie, war mein Lehrer, der Mathematik zelebriert hat wie ein Kunstwerk
und mir bei der Schwere des zu erarbeitenden Stoffes die Freude daran
vermittelt hat. Bei uns Studenten gab es den Satz: Euklid hat die Geometrie
entdeckt, Hilbert hat die Axiome aufgestellt und durch Bachmann wurde sie
erst schön.
Noch einmal aber zurück zu Pascal:
Zum "Trost" für heutige Schüler sei darauf hingewiesen, dass in späteren
Jahren die Ärzte dem kränkelnden Genie Pascal - so kann man nachlesen -
anraten mussten, sich stärker dem normalen Leben zuzuwenden, was heutigen
Schülern ja kaum extra verordnet werden muss. Wie ich schon eingangs sagte,
soll man eben die Dinge, zu denen auch die Mathematik zählt, nicht
übertreiben. Perfekt wie Pascal war, durchlebte er dann - sozusagen
"ärztlich angeordnet"- seine sogenannte "mondäne Periode". Er wurde
phasenweise u.a. zum Glücksspieler, um sich dann - hier schließt sich
wieder der Kreis - aus diesen wohl prägenden und wohl auch teuren
Lebenserfahrungen heraus konsequenterweise nun mit Kombinatorik und
Wahrscheinlichkeitstheorien zu befassen, übrigens der Bereich, aus dem
meine Diplomarbeit stammt. Wie praktisch anwendbar dieser Teil der
Mathematik ist, wird Herr Beutelmann als Vorstandsvorsitzender einer großen
Versicherung sicher bestätigen können.
Pascal war also mit Leib und Seele Mathematiker. Nur der guten Ordnung
halber - man weiß ja nie, ob auch Physiker im Saal sitzen - soll nicht
unerwähnt bleiben, dass Pascal auch Physiker war.
Mathematik ist überall und stellt in der Informationsgesellschaft einen
Standortfaktor dar. Nicht umsonst heißt ein aktuelles und auch für
Nichtmathematiker sehr lesenswertes Buch "Alles Mathematik".
Komplizierte Berechnungen steuern z.B. einen Motor und den Katalysator im
Auto und Schallschutzanlagen basieren auf mathematischen Berechnungen. Es
gäbe ohne Mathematik keine vernünftige Wettervorhersage, keine
Stromversorgung und kein Fernsehen.
Selbst in Hollywood dringt Mathematik immer stärker in das Bewusstsein ein.
Erst vor 3 Wochen erhielt der Film "A Beautiful Mind" mit dem
"Gladiator"-Darsteller Russel Crowe einen "Golden Globe"; der Film
behandelt die Lebensgeschichte des Mathe-Genies John Forbes Nash Jr..
Auch im neuen Film "Enigma" ist Mathematik das zentrale Thema; die
Lebensgeschichte Alan Turings, der entscheidend dazu beitrug, dass der als
unlösbar geltende Code der deutschen Chiffriermaschine Enigma geknackt
wurde, wird allerdings sehr verfälschend darstellt.
Oder denken Sie an den Film "Jurassic Park", wo auch ein Mathematiker eine
Hauptrolle zugewiesen bekommen hat. Sein Spezialgebiet war die
Chaostheorie, die - dramaturgisch naheliegend - sofort ihre praktische
Seite entfaltete, indem die Saurier unter spektakulären Umständen
ausbrachen. Muss ich noch extra erwähnen, dass der arme Mathematiker, den
eine Aura des Wissens umgab, quasi als lebendiger Beweis der Chaostheorie
von einem abscheulichen Saurier grausam zerfleischt wurde?
Im Ergebnis nicht viel besser erging es übrigens im Film "Die Codebreaker"
einem Kollegen, der ein sogenanntes Zahlensieb erfunden hatte, um einen
RSA-Code, auf den ich noch im weiteren zu sprechen komme, zu brechen. Die
Erfindung kostete auch diesen Mathematiker das Leben; er wurde umgebracht.
Ein Schicksal übrigens, das dem Schüler von Pythagoras, Hippasus, schon vor
rund 2500 Jahren passiert sein soll, als er Pythagoras bewies, dass die
Wurzel aus 2 keine rationale Zahl sein kann. Dies war ein wahrer Schock für
Pythagoras, da die Existenz von irrationalen Zahlen sein auf rationalen
Zahlen gegründetes Universum in Frage stellte. Für seinen "Frevel" soll
Hippasus bei einer Seefahrt von seinen pythagoräischen Kollegen über Bord
geworfen worden sein, was in der Literatur als vielleicht größte Tragödie
der griechischen Mathematik bezeichnet wird.
Ich gehe davon aus, dass sich die Wissenschaftskultur in den
zwischenzeitlich vergangenen rund 2500 Jahren so weiterentwickelt hat, dass
- so hoffe ich jedenfalls - an der Bergischen Universität Wuppertal
Studenten und Studentinnen der Mathematik gefahrlos forschen und
Gegenmeinungen zu ihren Lehrkräften vertreten dürfen, ohne um ihr Leben
fürchten zu müssen. Wobei mich eines nachdenklich gemacht hat: Woher stammt
eigentlich das Sprichwort "Er geht über die Wupper"?. Sie brauchen
hoffentlich nicht für etwaige abweichende Erkenntnisse über die Wupper zu
gehen.
Herr Prof. Spiegel und Frau Prof. Maack nicken, Assistentenstellen an der
mathematischen Fakultät in Wuppertal bleiben offenbar nicht aus Angst
unbesetzt; ich bin beruhigt.
Doch lassen Sie uns nun den Blick von Hollywood und seinen tragischen
Opfern der Mathematik hin zum Alltagsleben wenden, in dem ohne die
Mathematik technische Geräte nicht funktionieren würden.
Der größte Teil der Bevölkerung weiß sicherlich nicht, dass für das
Entlocken von Tönen einer CD mathematische Verfahren notwendig sind. Man
kann sich in einem Seminar nur mit der Mathematik der Compact Disc
befassen. Allein schon die Frage, warum die Musikübertragung auf einer CD
reiner ist als bei einer herkömmlichen Schallplatte führt z.B. auf einen
Zweig der diskreten Mathematik, nämlich der Theorie der
Fehler-korrigierenden Codes. Hören wir störungsfrei z.B. klassische Musik
von einer CD - etwa die Zauberflöte - sollte unser Dank neben Mozart auch
der Mathematik gelten. Nur den wenigsten ist dies leider bewusst.
Oder denken Sie an die Primzahlen. Wer weiß schon außerhalb der Fachwelt,
dass diese mysteriösen Zahlen, die die Mathematiker seit der Antike
beschäftigen, ganz wesentlich zu unserer Datensicherheit beitragen und eine
entscheidende Rolle bei geheimen Codes spielen. Das bekannteste
Schlüsselsystem, welches heute im Bankenverkehr universell verwendet wird,
ist bekanntermaßen das schon im Zusammenhang mit Hollywood erwähnte
RSA-System (benannt nach den Erfindern Rivest, Shamir und Adleman). Es
hilft uns Kunden beim Datenaustauch mit der Bank und beim Austausch von
Daten im Internet. Auch der UMTS-Standard für Handys stützt sich auf
Verfahren wie den RSA-Code. Auch das Datenverschlüsselungsverfahren DES sei
hier erwähnt (data encryption standard).
So wird Geldabheben sicher gemacht und über die Geheimzahl kontrolliert,
dass der Kontoabheber zum Abheben berechtigt ist. Die Verbreitung
elektronischen Geldes läuft insofern nur über die Mathematik.
Nach meinem letzten Kenntnisstand soll übrigens im Moment die größte
bekannte Primzahl vier Millionen Stellen haben und von einem kanadischen
Mathematik-Enthusiasten mit Hilfe eines weltumspannenden Computernetzes
gefunden worden sein, letzter Stand ist der 14.11.2001 (Die Zahl 2 hoch
13.466.917 minus 1). Es ist damit mindestens die 39. Mersenne-Zahl. Der
Nutzen ist allerdings selbst für Zahlentheoretiker eher gering.
Praktisch interessanter ist da schon das Ziegenproblem. Es ist das
klassische Beispiel, wo die mathematische Betrachtung eines Problems zu
kontraintuitiven Ergebnissen führt und so vielleicht schon deshalb das
Interesse für die Mathematik weckt. Bei dieser zeitgenössischen Variante
eines alten Rätsels geht es ja bekanntermaßen um eine amerikanische
Spielshow im Fernsehen, bei der der Kandidat eine von drei verschlossenen
Türen auswählen sollte. Hinter einer der Türen erwartet ihn ein großer
Preis, z.B. ein PKW. Hinter den übrigen beiden stehen Ziegen. Der Kandidat
zeigt z.B. auf eine Tür 1, die zunächst geschlossen bleibt. Der Moderator
kennt die Tür, hinter der sich das Auto befindet. Mit den Worten "Ich zeige
Ihnen mal etwas" öffnet er eine andere Tür, hinter der sich dem Publikum
eine meckernde Ziege präsentiert. Nun fragt der Moderator den Kandidaten,
ob er bei der gewählten Tür oder zu der anderen geschlossenen Tür wechseln
möchte. Es stellt sich also die Frage, ob der Kandidat durch einen Wechsel
seine Gewinnchance erhöht?
Aus mathematischer Sicht hat er bei einem Wechsel des Tipps in der Tat
doppelt so große Chancen, was auf den ersten Blick verblüfft.
Bleibt der Kandidat bei der ursprünglich gewählten Tür 1 gewinnt er bei
einem Drittel der Fälle. Wird von ihm der Tipp geändert, steigt die
Gewinnchance auf zwei Drittel.
Das sind eben die lohnenden und praktisch anwendbaren Kenntnisse der
Wahrscheinlichkeitstheorie. (Wenn der Kandidat den Tipp wechselt, hat er
die gleiche Wahrscheinlichkeit zu gewinnen, als wenn er in der ersten Runde
zwei Tore hätte auswählen dürfen, das falsche Tor des Moderators und sein
letztendlicher Tipp = 2/3 Wahrscheinlichkeit).
Sollte allerdings einer von Ihnen im Saal künftig einmal als Kandidat in
eine solche Situation kommen und aus mathematischen Gründen unter Hinweis
auf meinen Vortrag den Tipp wechseln und z.B. Tür 2 auswählen, um dann
feststellen, dass der PKW doch in Tür 1 war, lehne ich vorsorglich jede
juristische und moralische Haftung ab. Diesen Haftungsausschluss hat mir
das Justitiariat meines Ministeriums ganz dringend angeraten.
Mathematik kann schließlich leider nicht vor Pech bewahren; es ist bei
deren Anwendung manchmal nur weniger wahrscheinlich.
Der Begriff vom Pech, der beim Ziegenproblem eine Rolle spielte, führt fast
automatisch in den Bereich der Zahlenmystik.
Ich glaube, man könnte sich auch in diesem Feld stundenlang tummeln.
Hierfür fehlt leider die Zeit. Gestatten Sie mir nur eine kleine Anmerkung
zu einer in der letzten Zeit immer häufiger in Zeitungen und im Fernsehen
auftauchenden Zahl, nämlich der Zahl 18 in Verbindung mit Prozent.
Bisher kam der Zahl 18 eigentlich nur für den Eintritt in die
Volljährigkeit besondere Bedeutung zu. Nunmehr taucht sie in fast jeder
Zeitung auf. Ihr wird offensichtlich in Kombination mit der blau-gelben
Farbenlehre eine besondere Zahlenmystik zugeschrieben.
Mathematische Fachkreise sprechen hier von der sog. Möllemann-Theorie, die
aber noch niemals bewiesen werden konnte.
Die zweistellige Suggestion der blau-gelben 18 wird sicher nicht die
Bedeutung der
Fermatschen Vermutung, auf die ich noch zu sprechen komme, erreichen.
Zweifel an der Beweisbarkeit der Theorie - oder sollten wir besser sagen
Utopie (der 1478 geborene Thomas Morus, der Verfasser der Utopia, hat
übrigens heute Geburtstag) - sind angebracht.
Nicht, dass sich Herr Möllemann, der ja in Verbindung zu Schalke 04 steht,
genau so irrt wie einst eine ZDF-Sportredakteurin, die aus Schalke 04 ein
Schalke 05 machte: Die Folge ihres Irrtums trat sofort ein: Entlassung!
Armer Herr Möllemann.
Wenn wir schon über Fußball reden, muss man auch etwas zu Bayern München
sagen. Die haben natürlich den unschätzbaren Vorteil, mit Ottmar Hitzfeld
über einen gelernten Mathematiker als erfolgreichsten Trainer Europas zu
verfügen, der die Spielstrategien austüftelt. Merke: Wir Mathematiker haben
also quasi das Geheimkonzept von Bayern München gemacht. Die Mathematik,
richtig angewendet, führt auch im Fußball zum Erfolg. Wobei klar ist, wenn
man Meister werden will, muss man nicht nur die Spiele gegen den
unmittelbaren Konkurrenten Bayer Leverkusen gewinnen, sondern auch gegen
den Letzten, St. Pauli.
An dieser Stelle sei auch nur zur Vervollständigung angemerkt, dass
übrigens entgegen einer weit verbreiteten Ansicht der Ball nicht rund ist,
sondern - genaugenommen - aus 12 Fünf- und 20 Sechsecken besteht. Ob der
Mathematiker und Champions League-Sieger Hitzfeld schon einmal in einer
Trainingspause schnell nebenbei ausgerechnet hat, wie viele Kanten und
Ecken der Fußball hat? Wir wissen es nicht. Es sind übrigens 90.
Nur Hitzfeld weiß wohl auch als einziger im Kreise der Mannschaften, dass
die Wahrscheinlichkeit, dass bei einem Fußballspiel von den 23 Personen auf
dem Fußballfeld - zwei Teams und der Hauptschiedsrichter - 2 am selben Tag
Geburtstag haben, über 50 % liegt. Bei 23 Personen und 365 Tagen ist dies
ja auf den ersten Blick für Nicht-Mathematiker wirklich sehr erstaunlich.
Mathematiker gibt es übrigens nicht nur im Kreise von Bundesligatrainern,
sondern in den verschiedensten Berufszweigen. Der Ministerpräsident von
Sachsen-Anhalt - Höppner - ist Mathematiker, aber auch z.B. der
Vorstandsvorsitzende der Deutschen Telekom AG, Ron Sommer. Er weiß schon
durch seine Ausbildung und den Börsengang um die Rolle der Mathematik auf
den Finanzmärkten, wobei es bei dem heutigen Anlass und dem Preisstifter
nahe liegt und der Höflichkeit entspricht, auch die ältere Schwester der
Finanzmathematik nicht unerwähnt zu lassen, nämlich die klassische
Versicherungsmathematik.
Wichtig ist Mathematik auch z.B. für die effektive Organisation des mir
natürlich besonders am Herzen liegenden öffentlichen Personennahverkehrs.
Die Optimierung des Fahrzeugumlaufs ist von zahlreichen Berechnungen
abhängig. Die Planung mehrerer Wege und als Vorstufe das
Kürzeste-Wege-Problem ist seit jeher eine interessante mathematische
Fragestellung. Wer denkt nicht automatisch an den Optimierungsansatz bei
dem klassischen Königsberger Brückenproblem und an die Eulertour. Euler
wies ja bekanntermaßen nach, dass ein Spaziergang über die dortigen 7
Brücken nicht möglich ist, ohne eine Brücke zwei mal zu überqueren. Apropos
Euler - von ihm wird berichtet, dass er wirklich sein ganzes Leben in den
Dienst der Mathematik stellte und keinen Augenblick für seine Forschung
ungenutzt verstreichen ließ. Er soll zwischen dem ersten und zweiten Ruf
zum Abendessen noch schnell Berechnungen abgeschlossen haben und beim
In-den-Schlaf-Schaukeln seines Kindes immer mit der anderen Hand noch einen
Beweis entworfen haben, was mich an ein Bonmot von Sir Arthur Eddington
erinnert: "Der Beweis ist ein Götze, vor dem der Mathematiker sich
foltert."
Von dem Problem der Übertreibung sprachen wir ja schon an anderer Stelle.
Aus der Sicht der Mathematik müssen wir allerdings natürlich Euler für
seinen Enthusiasmus und sein Vergnügen an Entdeckungen sehr dankbar sein.
Ein schönes Wegeproblem findet sich ja auch, wie man in dem Buch "Alles
Mathematik" nachlesen kann, in Friedrich Schillers Schauspiel "Wilhelm
Tell".
Nach dem berühmten Apfelschuss ist Tell am Ufer des Vierwaldstätter Sees,
am Rande des Ortes Altorf. Er muss vor dem Reichsvogt Hermann Geßler
schnellstmöglich die Hohle Gasse in Küßnacht erreichen. Es heißt bei
Schiller:
Tell: |
Nennt mir den nächsten Weg nach Arth und Küssnacht. |
Fischer: |
Die offne Straße zieht sich über Steinen,
Doch den kürzern Weg und heimlichern
Kann Euch mein Knabe über Lowerz führen.
|
Tell: |
Gott lohn Euch Eure Guttat. Lebet wohl. |
Es wird hier also ein graphentheoretisches Optimierungsproblem gelöst.
Das Wegenetz am Vierwaldstätter See stellt den Graphen dar, die Reisezeiten
sind die Kantenlängen, zwischen zwei vorgegebenen Punkten (Altorf und
Küßnacht) ist der kürzeste Weg zu bestimmen. Literatur und Mathematik -
eine schöne Kombination, wie ich meine.
Da wir schon bei den schönen Künsten sind:
Auch in der Musik spielt Mathematik seit jeher eine Rolle. Schon Pythagoras
hatte anhand einer Leier entdeckt, dass den Harmonien in der Musik einfache
Zahlenverhältnisse zugrunde liegen. Wurde auf dem wichtigsten Instrument
der hellenischen Musik beim Zupfen ein Punkt gewählt, welcher nicht einen
einfachen Bruchteil an der Gesamtlänge darstellte, harmonierte der Ton
nicht mit den anderen Tönen.
Alles ist eben Zahl, wie das Credo von Pythagoras lautet. Vielleicht ist
das der Grund, dass viele Mathematiker und Mathematikerinnen ein Instrument
spielen und das oft noch sehr gut.
Aktuell sei bei der Thematik "Mathematik und Musik" auf die Idee der
stochastischen Musik, also der Zufallsmusik, verwiesen. So mathematisch
interessant diese Computermusik als "automatische Kunst" sein mag, ich
halte mich lieber an Mozart. Hierfür habe Sie sicher angesichts des
Berufsalltags einer Ministerin Verständnis.
Viel erheblicher ist die Bedeutung der Mathematik für die Medizin.
Von existentieller Bedeutung ist sie bei der Therapieplanung an virtuellen
Krebspatienten. Eine präzise auf einzelne Patienten zugeschnittene
Behandlung ist in diesem komplexen Bereich oft nur durch ein Zusammenspiel
der Medizin, Mathematik und Informatik möglich. Auch beschäftigen sich z.B.
aktuelle Berliner Forschungsgruppen mit dem Problem, mit schnellen
Computern die Wirksamkeit neuer Medikamente vorherzusagen, damit der Kreis
der Kandidaten, die intensiver untersucht werden sollen, erheblich
eingeschränkt werden kann. Der Arbeitstitel dieses Projekts lautet - dies
ist kein Scherz -
"Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren
Mathematiker."
Doch nun noch zu weiteren klassischen mathematischen Fragestellungen:
Dass die Beweisführung für mathematische Probleme manchmal etwas länger
dauert, zeigt das Beispiel mit dem optimalen Stapeln von Orangen. Es ist
kein Verbraucherschutzproblem, sondern - wie Sie wissen- eins der
Mathematik. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um die Frage nach
einer dichtesten Kugelpackung im 3-dimensionalen Raum. Beim normalen
Stapeln wie es die Obsthändler machen, beträgt der Anteil Frucht am Raum,
den der Stapel einnimmt, knapp drei Viertel. Dichter geht es nicht,
behauptete der Astronom und Mathematiker Keppler schon vor mehreren hundert
Jahren.
Im Jahr 1611 veröffentlichte er ein Buch mit dem interessanten und fast
poetisch klingenden Titel "Vom sechseckigen Schnee", wobei beim Stichwort
"Poesie" am Rande darauf hingewiesen sei, dass altindische Mathematiker
ihre Gedanken in Reimen ausdrückten. Doch zurück zu Keppler.
In seinem Werk befasste sich Keppler nicht nur mit Schneeflocken als
Beispiel in der Natur auftretender Formen und Muster, sondern auch mit den
Kernen von Granatäpfeln, was ihn zu dem Problem der auf einen Raum
"gepackten" Kugeln führte. Die Beweisführung für die Keppler-Vermutung war
allerdings schwierig. 1998 scheint Thomas C. Hales aus Amerika dem Beweis
sehr nahe gekommen zu sein. Nur um eine Vorstellung über die Dimension des
Problems zu geben, sei erwähnt, dass sich die mit Computerhilfe
vorgenommene Beweisführung von Hales über 250 Seiten erstreckt. Insgesamt
werden dabei ungefähr 100.000 lineare Optimierungsprobleme betrachtet. Die
Geschichte der Vermutung ist wohl noch nicht zu Ende. Ich hoffe nicht, dass
sich künftig das Problem praktisch löst, indem die Gentechnik zu
kubusförmigen Orangen führt.
Besonders faszinierend finde ich die abenteuerliche Geschichte des
mathematischen Beweises von Fermats letztem Satz, wie sie von Simon Singh
in seinem gleichnamigen Buch, das sich wie ein Wissenschaftskrimi liest,
dargestellt wird.
In den Notizen von Fermat - der übrigens von Hause aus Jurist und
gewissenhafter Staatsdiener war - gab es ja bekanntlich Hinweise, dass er
einen mathematischen Beweis dafür gefunden hatte, dass der Satz des
Pythagoras a2 + b2 = c2
zwar für jedes rechtwinklige Dreieck gilt und eine
ganzzahlige Lösung ergibt, aber nicht mehr gilt, sobald die Potenz erhöht
wird (Fermatsches Triple).
In den berühmten Randnotizen in seinem Exemplar der Arithmetica, die nach
seinem Tod von seinem Sohn veröffentlicht wurden, hieß es:
"Es ist nicht möglich, einen Kubus in zwei Kuben oder ein Biquadrat in zwei
Biquadrate und allgemein eine Potenz, höher als die zweite, in zwei
Potenzen mit demselben Exponenten zu zerlegen. Ich habe dafür einen
wunderbaren Beweis, doch ist der Rand zu schmal, um ihn zu fassen."
Fermats letzter Satz gilt als Himalajagipfel der Zahlentheorie.
Das Besondere an dem Problem war seine trügerische Schlichtheit.
Generationen von begnadeten Mathematikerinnen und Mathematikern versuchten
sich an der Lösung, bis bekanntermaßen endlich 1995 dem in Princeton (New
Jersey) lehrenden genialen Mathematiker Andrew Wiles der Beweis gelang.
Wiles hatte sich dem Problem schon im Alter von 10 Jahren erstmals
genähert. Der Umstand, dass die klügsten Köpfe des Planeten sich erfolglos
an der Lösung versucht hatten, schreckte ihn nicht ab. 30 Jahre später und
nach mehr als sieben Jahren einer für Mathematiker eher untypischen
Einsiedler-Forschung, die sich auf die Lösung des Fermat-Problems
konzentrierte, hatte Wiles das Heureka-Erlebnis und nahm der Mathematik ein
Problem. Es warten ja auch genügend andere.
Fermat befasste sich auch mit den "befreundeten Zahlen", also solchen
Paaren von Zahlen, welche die Summe der Teiler der jeweils anderen Zahl
darstellen. Das Paar 220 und 284, das auch den Pythagoreern schon bekannt
war, ist zum Symbol der Freundschaft geworden (Die Teiler von 220 sind
1,2,4,5,10,11,20,22,44,55 und 110, ihre Summe ist 284; die Teiler von 284
wiederum sind 1,2,4,71 und 142, ihre Summe ist 220).
Ein Numerologe aus Arabien berichtet, dort gebe es einen Brauch, 2 Früchte
zu nehmen, jeweils die 220 in die eine und die Zahl 284 in die andere zu
ritzen, um dann die erste zu essen und die zweite dem Partner bzw. der
Partnerin zu geben.
Sie werden mir sicher alle zustimmen, dass dies gelebte und geliebte
Mathematik in einer ihrer wohl schönsten Formen ist.
Ein englischer Bergsteiger antwortete einmal auf die Frage: "Why do you
climb Mount Everest?" "Because it`s there!" Dass da ein Berg ist, der
bezwungen werden muss: das ist die Herausforderung. Zum Beispiel ein Berg
ungelöster Probleme. Und genau das ist der tiefere Grund für alle
Spitzenleistungen und auch der Grund für die besonderen mathematischen
Leistungen.
Das Stichwort der "besonderen mathematischen Leistungen" führt uns quasi
automatisch zum Anlass dieser Veranstaltung. Ich möchte nunmehr gleich an
Herrn Prof. Spiegel und Herrn Beutelmann zur eigentlichen Preisverleihung
weiterleiten und zum Ende meines Vortrags kommen.
Abschließen möchte ich mit einem Bonmot des österreichischen
Schriftstellers Egmont von Colerus (1888-1939), der neben seinen Romanen
allgemeinverständliche Einführungen in die Mathematik schrieb:
"Die Mathematik ist eine Mausefalle. Wer einmal in dieser Falle sitzt,
findet selten den Ausgang, der zurück in seinen vormathematischen
Seelenzustand leitet."
Meine Damen und Herren, ich persönlich suche diesen Ausgang aus der
"Mausefalle" erst gar nicht und habe nach dem Eindruck aus dieser
Veranstaltung das Gefühl und die berechtigte Hoffnung, dass dies auch bei
allen anderen Anwesenden hier genauso ist.
Besonders die Preisträgerinnen und Preisträger, denen ich für ihre
Leistungen schon vorab ganz herzlich gratuliere, sitzen jedenfalls
spätestens seit heute in der Falle. Sie haben sozusagen das mathematische
Matterhorn mit Erfolg bezwungen und bekommen mit Recht auch noch einen
Preis dafür. Für den mathematischen Seelenzustand ist dies sicher
förderlich.
Ich wünsche Ihnen, der Bergischen Universität Wuppertal, dem Fachbereich
für Mathematik und seinem Lehrkörper, dem gesamten Auditorium und seinen
Studierenden für die Zukunft alles Gute.
Es wäre sehr schön, wenn der heutige Tag den Weg zu weiteren
Preisverleihungen ebnet, das stiftende Versicherungsunternehmen
entsprechend ermutigt und - dies ist das Wichtigste - für das wunderbare
Fach der Mathematik mit Erfolg wirbt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
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