Barmenia-Mathematik-Preis 2000/2001  

 
   

   
 

Bärbel Höhn
Ministerin für Umwelt und Naturschutz,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz
des Landes Nordrhein-Westfalen

"Die Rolle der Mathematik in unserer Gesellschaft"



Vortrag

anlässlich der erstmaligen Überreichung des Barmenia-Preises
an besonders erfolgreiche Absolventinnen und Absolventen
des Studiengangs der Mathematik an der Bergischen Universität Wuppertal

Wuppertal

07. Februar 2002




(Autorisiertes Manuskript, zur Veröffentlichung freigegeben)

 
   

   
 

Sehr geehrter Herr Dekan Prof. Dr. Spiegel,
Sehr geehrte Frau Prof. Maack,
Sehr geehrter Herr Beutelmann,
Meine sehr geehrten Damen und Herren,

ich bedanke mich sehr herzlich für die Einladung zu dieser Veranstaltung und die Anfrage für ein Grußwort zur erstmaligen Überreichung des Barmenia-Preises an besonders erfolgreiche Absolventinnen und Absolventen im Bereich der Mathematik. Als wir in Düsseldorf feststellten, dass die Preisverleihung Weiberfastnacht, nachmittags, stattfinden sollte, haben wir zunächst nachgefragt, ob die Terminkollision bekannt sei. Ja, hieß es, das spiele keine Rolle. Da wusste ich, ich bin wieder im Kreis von Mathematikern.

Als Mathematikerin habe ich natürlich immer noch starke Bezugspunkte zu meinem alten Studienfach und freue mich deshalb ganz besonders, dass ich heute hier gerade zu diesem Thema zu Ihnen sprechen darf. Ich möchte dies gerne unter einem speziellen Gesichtspunkt tun, nämlich der praktischen Bedeutung der Mathematik für unser tägliches Leben.

Ich meine hier nicht, dass es z.B. für eine Ministerin durchaus sehr hilfreich ist, wenn sie als Mathematikerin bei den immer schwieriger werdenden Haushaltsberatungen ein besonders gutes Verhältnis zu Zahlen hat. Der Finanzminister verpackt Mittelkürzungen für die Ressorts nämlich gern in einer wahren Zahlenschlacht. Da ist es wichtig, den Überblick zu behalten und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, vor allem schnell herauszufinden, welche grundsätzliche Alternative der Mittelkürzung für das eigene Ressort zu den geringsten Auswirkungen führt.

Hinzu kommt, dass schon Goethe in "Meisters Wanderjahren" gerade Mathematikern eine besondere Hartnäckigkeit zugeschrieben hat. Wie bei so vielem hat Goethe auch hier Recht.

Ich möchte mich mit der allgemeinen Rolle der Mathematik für das normale Leben und ihrem Image befassen. Richard Hamming hat in seinem berühmten Buch über wissenschaftliches Rechnen einmal geschrieben:
"Der Gegenstand der Rechnungen sind nicht Zahlen,
sondern Einsichten."

Er hat Recht. Es ist nicht von ungefähr, dass Mathematik früher ein Teil der philosophischen Fakultät war.

Die Stärke der Mathematik ist es, das logische Denken und die Fähigkeit zur Analyse zu verbessern. Sie ist abstrakt, führt jedes Problem auf seinen Kern zurück und ist eine der reinsten Formen des Denkens. Ziel ist der absolute Beweis, das Finden der Wahrheit schlechthin. Mathematik wird deshalb oft als Königin der Wissenschaften bezeichnet und findet sich schon in sämtlichen antiken Kulturen. In dem Zusammenhang sei erwähnt, dass übrigens Euklid mit seinem Werk den "Elementen" das erfolgreichste Lehrbuch der Welt geschrieben hat. Bis in das 19. Jahrhundert rangierte es vom Verkauf her direkt nach der Bibel.

Mathematik schult z.B. das logische Denken, was für alle Lebensbereiche - einschließlich der Politik - wichtig ist.

Ich möchte dies an einem etwas ketzerischen Scherz über Mathematiker deutlich machen, der übrigens - wie Sie gleich sehen werden- auch einen Bezug zur Landwirtschaft hat, also in meinem aktuellen Arbeitsfeld liegt.

Ein Ingenieur, ein Physiker und ein Mathematiker fuhren mit dem Zug durch Schottland. Vom Zugfenster aus sahen sie inmitten einer Wiese ein schwarzes Schaf stehen. "Wie interessant", bemerkt der Ingenieur, "alle schottischen Schafe sind schwarz!" Der Physiker korrigierte ihn. "Nein, nein! In Schottland gibt es mindestens ein schwarzes Schaf." Dem Mathematiker ist auch diese Behauptung noch viel, viel zu gewagt. "In Schottland gibt es mindestens eine Wiese mit mindestens einem Schaf, das mindestens von einer Seite schwarz ist.".

Kommt Ihnen das vertraut vor? Hinter jedem Scherz steckt eine gewisse Wahrheit. Nicht umsonst hat jedenfalls Wittengenstein einmal gesagt, dass die Mathematik eine Methode der Logik ist. Sie werden mir allerdings zustimmen, dass man es - wie bei allen Dingen im Leben- mit dem mathematischen Denken auch nicht übertreiben sollte. Wenn ich jedenfalls auf einer meiner vielen Zugfahrten zu Terminen ein parallel zum Zug stehendes schwarzes Schaf sehe, gehe ich nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit einfach davon aus, dass es nicht einseitig weiß ist. Wichtiger ist es nach den Maßstäben der neuen Agrarpolitik, ob es auf einer Weidefläche grast, die den Grundsätzen ökologischer Landwirtschaft entspricht.

Warum ist es notwendig, sich über die praktische Rolle der Mathematik Gedanken zu machen?

Wie Sie alle wissen, hat die unlängst veröffentlichte PISA-Studie 2000 (Programme for International Student Assessment) ergeben, dass die Schüler aus dem Geburtsland von Adam Riese im Bereich der Mathematik im Quervergleich zu anderen europäischen Schülern enttäuschende Leistungen gezeigt haben. Die deutschen Schüler landeten abgeschlagen auf hinteren Plätzen, nämlich dem 20. Platz von 31 Nationen, unter dem Durchschnitt. Die internationale Leistungsspitze wird durch die beiden ostasiatischen Länder Japan und Korea geprägt. Mit der mathematischen Grundbildung steht es offenbar bei uns in Deutschland leider nicht zum besten.

Ich hatte vor kurzem Gelegenheit, mich mit den Verfassern der Studie zu unterhalten. Besonders interessant für mich war deren Analyse, dass die Mathematikschwächen auch in einer unmittelbaren Korrelation mit den Leseschwächen stehen. Lesen-Können ist also eine notwendige Voraussetzung für das Erlernen mathematischer Fähigkeiten, hinreichend ist das Lesen aber nicht.

Mathe ist leider kein Kult bei Schülern, hätte es aber verdient. Mathematikerinnen und Mathematiker haben auf dem Arbeitsmarkt gute Chancen. Wer zudem über fundierte Programmierkenntnisse verfügt, die durch Praktika ergänzt werden, wird auch in Zukunft ohne große Probleme eine Stelle finden.

Das Fach gilt zu Unrecht als staubtrocken, lebensfern und von einem Normalsterblichen nicht zu begreifen.

Vom Mathematiker und Physiker Pascal (1623-1662), der mit 16 Jahren eine Abhandlung über Kegelschnitte vollendete, wird berichtet, dass er als junger Mensch Kopfschmerzen durch das Erfinden geometrischer Probleme bekämpft hat; übrigens eine sehr kostengünstige Form der Alternativmedizin. In der heutigen Schulwelt kann leider nicht ausgeschlossen werden, dass manchmal eine Reihe junger Menschen gefährdet ist, das Lösen geometrischer Probleme durch das Erfinden von Kopfschmerzen bekämpfen zu wollen.

Die beste Medizin hiergegen erscheint mir, immer wieder in der Öffentlichkeit klar zu machen, wie spannend und für die Praxis wichtig Mathematik ist. Wir sind - spätestens seit PISA - alle aufgerufen, hierzu unseren Beitrag zu leisten und für die Mathematik zu werben. Mathematik ist - das wissen wir Mathematiker - eine spannende Wissenschaft, sie ist Bestandteil des Alltags. Dies zu vermitteln und für das Fach und sein Studium zu motivieren, ist eine wichtige Aufgabe, die neben den Schulen auch den Hochschulen obliegt. Eine Preisverleihung, wie sie hier heute vorgenommen wird, ist dabei sicher auch ein wichtiger Baustein.

Wie ich weiß, unternimmt der Fachbereich Mathematik der Universität Wuppertal aber noch mehr zur Erreichung dieses Ziels.

Vorträge für Schüler unter dem Sammelbegriff "Mathematisches Kaleidoskop" in diesem Wintersemester und im nächsten Semester an Ihrer Universität anzubieten, finde ich ganz hervorragend.

Ich kann Sie zu dieser Idee und diesem übrigens auch in der Praxis sehr gut angenommenen Projekt nur beglückwünschen. Es weist genau in die richtige Richtung, wenn ich an das erwähnte Beispiel von Pascal und die Kopfschmerzen denke. So werden an Ihrer Universität für die Schüler in diesem Semester z.B. auch Vorträge über hyperbolische Geometrie gehalten.

Meine fachlichen Bezüge als Ministerin zur Geometrie sind übrigens größer als Sie denken. Schließlich bedeutet das Wort Geometrie Vermessung der Erde, und genau dies tun z.B. die mir unterstellten Ämter für Agrarordnung. Dies sei nur am Rande erwähnt. Ich habe aber auch einen Bezug über mein damaliges Studium. Prof. Bachmann, einer der großen Deutschlands in der Geometrie, war mein Lehrer, der Mathematik zelebriert hat wie ein Kunstwerk und mir bei der Schwere des zu erarbeitenden Stoffes die Freude daran vermittelt hat. Bei uns Studenten gab es den Satz: Euklid hat die Geometrie entdeckt, Hilbert hat die Axiome aufgestellt und durch Bachmann wurde sie erst schön.

Noch einmal aber zurück zu Pascal:

Zum "Trost" für heutige Schüler sei darauf hingewiesen, dass in späteren Jahren die Ärzte dem kränkelnden Genie Pascal - so kann man nachlesen - anraten mussten, sich stärker dem normalen Leben zuzuwenden, was heutigen Schülern ja kaum extra verordnet werden muss. Wie ich schon eingangs sagte, soll man eben die Dinge, zu denen auch die Mathematik zählt, nicht übertreiben. Perfekt wie Pascal war, durchlebte er dann - sozusagen "ärztlich angeordnet"- seine sogenannte "mondäne Periode". Er wurde phasenweise u.a. zum Glücksspieler, um sich dann - hier schließt sich wieder der Kreis - aus diesen wohl prägenden und wohl auch teuren Lebenserfahrungen heraus konsequenterweise nun mit Kombinatorik und Wahrscheinlichkeitstheorien zu befassen, übrigens der Bereich, aus dem meine Diplomarbeit stammt. Wie praktisch anwendbar dieser Teil der Mathematik ist, wird Herr Beutelmann als Vorstandsvorsitzender einer großen Versicherung sicher bestätigen können.

Pascal war also mit Leib und Seele Mathematiker. Nur der guten Ordnung halber - man weiß ja nie, ob auch Physiker im Saal sitzen - soll nicht unerwähnt bleiben, dass Pascal auch Physiker war.

Mathematik ist überall und stellt in der Informationsgesellschaft einen Standortfaktor dar. Nicht umsonst heißt ein aktuelles und auch für Nichtmathematiker sehr lesenswertes Buch "Alles Mathematik".

Komplizierte Berechnungen steuern z.B. einen Motor und den Katalysator im Auto und Schallschutzanlagen basieren auf mathematischen Berechnungen. Es gäbe ohne Mathematik keine vernünftige Wettervorhersage, keine Stromversorgung und kein Fernsehen.

Selbst in Hollywood dringt Mathematik immer stärker in das Bewusstsein ein.

Erst vor 3 Wochen erhielt der Film "A Beautiful Mind" mit dem "Gladiator"-Darsteller Russel Crowe einen "Golden Globe"; der Film behandelt die Lebensgeschichte des Mathe-Genies John Forbes Nash Jr..

Auch im neuen Film "Enigma" ist Mathematik das zentrale Thema; die Lebensgeschichte Alan Turings, der entscheidend dazu beitrug, dass der als unlösbar geltende Code der deutschen Chiffriermaschine Enigma geknackt wurde, wird allerdings sehr verfälschend darstellt.

Oder denken Sie an den Film "Jurassic Park", wo auch ein Mathematiker eine Hauptrolle zugewiesen bekommen hat. Sein Spezialgebiet war die Chaostheorie, die - dramaturgisch naheliegend - sofort ihre praktische Seite entfaltete, indem die Saurier unter spektakulären Umständen ausbrachen. Muss ich noch extra erwähnen, dass der arme Mathematiker, den eine Aura des Wissens umgab, quasi als lebendiger Beweis der Chaostheorie von einem abscheulichen Saurier grausam zerfleischt wurde?

Im Ergebnis nicht viel besser erging es übrigens im Film "Die Codebreaker" einem Kollegen, der ein sogenanntes Zahlensieb erfunden hatte, um einen RSA-Code, auf den ich noch im weiteren zu sprechen komme, zu brechen. Die Erfindung kostete auch diesen Mathematiker das Leben; er wurde umgebracht.

Ein Schicksal übrigens, das dem Schüler von Pythagoras, Hippasus, schon vor rund 2500 Jahren passiert sein soll, als er Pythagoras bewies, dass die Wurzel aus 2 keine rationale Zahl sein kann. Dies war ein wahrer Schock für Pythagoras, da die Existenz von irrationalen Zahlen sein auf rationalen Zahlen gegründetes Universum in Frage stellte. Für seinen "Frevel" soll Hippasus bei einer Seefahrt von seinen pythagoräischen Kollegen über Bord geworfen worden sein, was in der Literatur als vielleicht größte Tragödie der griechischen Mathematik bezeichnet wird.

Ich gehe davon aus, dass sich die Wissenschaftskultur in den zwischenzeitlich vergangenen rund 2500 Jahren so weiterentwickelt hat, dass - so hoffe ich jedenfalls - an der Bergischen Universität Wuppertal Studenten und Studentinnen der Mathematik gefahrlos forschen und Gegenmeinungen zu ihren Lehrkräften vertreten dürfen, ohne um ihr Leben fürchten zu müssen. Wobei mich eines nachdenklich gemacht hat: Woher stammt eigentlich das Sprichwort "Er geht über die Wupper"?. Sie brauchen hoffentlich nicht für etwaige abweichende Erkenntnisse über die Wupper zu gehen.

Herr Prof. Spiegel und Frau Prof. Maack nicken, Assistentenstellen an der mathematischen Fakultät in Wuppertal bleiben offenbar nicht aus Angst unbesetzt; ich bin beruhigt.

Doch lassen Sie uns nun den Blick von Hollywood und seinen tragischen Opfern der Mathematik hin zum Alltagsleben wenden, in dem ohne die Mathematik technische Geräte nicht funktionieren würden.

Der größte Teil der Bevölkerung weiß sicherlich nicht, dass für das Entlocken von Tönen einer CD mathematische Verfahren notwendig sind. Man kann sich in einem Seminar nur mit der Mathematik der Compact Disc befassen. Allein schon die Frage, warum die Musikübertragung auf einer CD reiner ist als bei einer herkömmlichen Schallplatte führt z.B. auf einen Zweig der diskreten Mathematik, nämlich der Theorie der Fehler-korrigierenden Codes. Hören wir störungsfrei z.B. klassische Musik von einer CD - etwa die Zauberflöte - sollte unser Dank neben Mozart auch der Mathematik gelten. Nur den wenigsten ist dies leider bewusst.

Oder denken Sie an die Primzahlen. Wer weiß schon außerhalb der Fachwelt, dass diese mysteriösen Zahlen, die die Mathematiker seit der Antike beschäftigen, ganz wesentlich zu unserer Datensicherheit beitragen und eine entscheidende Rolle bei geheimen Codes spielen. Das bekannteste Schlüsselsystem, welches heute im Bankenverkehr universell verwendet wird, ist bekanntermaßen das schon im Zusammenhang mit Hollywood erwähnte RSA-System (benannt nach den Erfindern Rivest, Shamir und Adleman). Es hilft uns Kunden beim Datenaustauch mit der Bank und beim Austausch von Daten im Internet. Auch der UMTS-Standard für Handys stützt sich auf Verfahren wie den RSA-Code. Auch das Datenverschlüsselungsverfahren DES sei hier erwähnt (data encryption standard).

So wird Geldabheben sicher gemacht und über die Geheimzahl kontrolliert, dass der Kontoabheber zum Abheben berechtigt ist. Die Verbreitung elektronischen Geldes läuft insofern nur über die Mathematik.

Nach meinem letzten Kenntnisstand soll übrigens im Moment die größte bekannte Primzahl vier Millionen Stellen haben und von einem kanadischen Mathematik-Enthusiasten mit Hilfe eines weltumspannenden Computernetzes gefunden worden sein, letzter Stand ist der 14.11.2001 (Die Zahl 2 hoch 13.466.917 minus 1). Es ist damit mindestens die 39. Mersenne-Zahl. Der Nutzen ist allerdings selbst für Zahlentheoretiker eher gering.

Praktisch interessanter ist da schon das Ziegenproblem. Es ist das klassische Beispiel, wo die mathematische Betrachtung eines Problems zu kontraintuitiven Ergebnissen führt und so vielleicht schon deshalb das Interesse für die Mathematik weckt. Bei dieser zeitgenössischen Variante eines alten Rätsels geht es ja bekanntermaßen um eine amerikanische Spielshow im Fernsehen, bei der der Kandidat eine von drei verschlossenen Türen auswählen sollte. Hinter einer der Türen erwartet ihn ein großer Preis, z.B. ein PKW. Hinter den übrigen beiden stehen Ziegen. Der Kandidat zeigt z.B. auf eine Tür 1, die zunächst geschlossen bleibt. Der Moderator kennt die Tür, hinter der sich das Auto befindet. Mit den Worten "Ich zeige Ihnen mal etwas" öffnet er eine andere Tür, hinter der sich dem Publikum eine meckernde Ziege präsentiert. Nun fragt der Moderator den Kandidaten, ob er bei der gewählten Tür oder zu der anderen geschlossenen Tür wechseln möchte. Es stellt sich also die Frage, ob der Kandidat durch einen Wechsel seine Gewinnchance erhöht?

Aus mathematischer Sicht hat er bei einem Wechsel des Tipps in der Tat doppelt so große Chancen, was auf den ersten Blick verblüfft.

Bleibt der Kandidat bei der ursprünglich gewählten Tür 1 gewinnt er bei einem Drittel der Fälle. Wird von ihm der Tipp geändert, steigt die Gewinnchance auf zwei Drittel.

Das sind eben die lohnenden und praktisch anwendbaren Kenntnisse der Wahrscheinlichkeitstheorie. (Wenn der Kandidat den Tipp wechselt, hat er die gleiche Wahrscheinlichkeit zu gewinnen, als wenn er in der ersten Runde zwei Tore hätte auswählen dürfen, das falsche Tor des Moderators und sein letztendlicher Tipp = 2/3 Wahrscheinlichkeit).

Sollte allerdings einer von Ihnen im Saal künftig einmal als Kandidat in eine solche Situation kommen und aus mathematischen Gründen unter Hinweis auf meinen Vortrag den Tipp wechseln und z.B. Tür 2 auswählen, um dann feststellen, dass der PKW doch in Tür 1 war, lehne ich vorsorglich jede juristische und moralische Haftung ab. Diesen Haftungsausschluss hat mir das Justitiariat meines Ministeriums ganz dringend angeraten.

Mathematik kann schließlich leider nicht vor Pech bewahren; es ist bei deren Anwendung manchmal nur weniger wahrscheinlich.

Der Begriff vom Pech, der beim Ziegenproblem eine Rolle spielte, führt fast automatisch in den Bereich der Zahlenmystik.

Ich glaube, man könnte sich auch in diesem Feld stundenlang tummeln. Hierfür fehlt leider die Zeit. Gestatten Sie mir nur eine kleine Anmerkung zu einer in der letzten Zeit immer häufiger in Zeitungen und im Fernsehen auftauchenden Zahl, nämlich der Zahl 18 in Verbindung mit Prozent.

Bisher kam der Zahl 18 eigentlich nur für den Eintritt in die Volljährigkeit besondere Bedeutung zu. Nunmehr taucht sie in fast jeder Zeitung auf. Ihr wird offensichtlich in Kombination mit der blau-gelben Farbenlehre eine besondere Zahlenmystik zugeschrieben.

Mathematische Fachkreise sprechen hier von der sog. Möllemann-Theorie, die aber noch niemals bewiesen werden konnte.

Die zweistellige Suggestion der blau-gelben 18 wird sicher nicht die Bedeutung der Fermatschen Vermutung, auf die ich noch zu sprechen komme, erreichen.

Zweifel an der Beweisbarkeit der Theorie - oder sollten wir besser sagen Utopie (der 1478 geborene Thomas Morus, der Verfasser der Utopia, hat übrigens heute Geburtstag) - sind angebracht.

Nicht, dass sich Herr Möllemann, der ja in Verbindung zu Schalke 04 steht, genau so irrt wie einst eine ZDF-Sportredakteurin, die aus Schalke 04 ein Schalke 05 machte: Die Folge ihres Irrtums trat sofort ein: Entlassung! Armer Herr Möllemann.

Wenn wir schon über Fußball reden, muss man auch etwas zu Bayern München sagen. Die haben natürlich den unschätzbaren Vorteil, mit Ottmar Hitzfeld über einen gelernten Mathematiker als erfolgreichsten Trainer Europas zu verfügen, der die Spielstrategien austüftelt. Merke: Wir Mathematiker haben also quasi das Geheimkonzept von Bayern München gemacht. Die Mathematik, richtig angewendet, führt auch im Fußball zum Erfolg. Wobei klar ist, wenn man Meister werden will, muss man nicht nur die Spiele gegen den unmittelbaren Konkurrenten Bayer Leverkusen gewinnen, sondern auch gegen den Letzten, St. Pauli.

An dieser Stelle sei auch nur zur Vervollständigung angemerkt, dass übrigens entgegen einer weit verbreiteten Ansicht der Ball nicht rund ist, sondern - genaugenommen - aus 12 Fünf- und 20 Sechsecken besteht. Ob der Mathematiker und Champions League-Sieger Hitzfeld schon einmal in einer Trainingspause schnell nebenbei ausgerechnet hat, wie viele Kanten und Ecken der Fußball hat? Wir wissen es nicht. Es sind übrigens 90.

Nur Hitzfeld weiß wohl auch als einziger im Kreise der Mannschaften, dass die Wahrscheinlichkeit, dass bei einem Fußballspiel von den 23 Personen auf dem Fußballfeld - zwei Teams und der Hauptschiedsrichter - 2 am selben Tag Geburtstag haben, über 50 % liegt. Bei 23 Personen und 365 Tagen ist dies ja auf den ersten Blick für Nicht-Mathematiker wirklich sehr erstaunlich.

Mathematiker gibt es übrigens nicht nur im Kreise von Bundesligatrainern, sondern in den verschiedensten Berufszweigen. Der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt - Höppner - ist Mathematiker, aber auch z.B. der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Telekom AG, Ron Sommer. Er weiß schon durch seine Ausbildung und den Börsengang um die Rolle der Mathematik auf den Finanzmärkten, wobei es bei dem heutigen Anlass und dem Preisstifter nahe liegt und der Höflichkeit entspricht, auch die ältere Schwester der Finanzmathematik nicht unerwähnt zu lassen, nämlich die klassische Versicherungsmathematik.

Wichtig ist Mathematik auch z.B. für die effektive Organisation des mir natürlich besonders am Herzen liegenden öffentlichen Personennahverkehrs.

Die Optimierung des Fahrzeugumlaufs ist von zahlreichen Berechnungen abhängig. Die Planung mehrerer Wege und als Vorstufe das Kürzeste-Wege-Problem ist seit jeher eine interessante mathematische Fragestellung. Wer denkt nicht automatisch an den Optimierungsansatz bei dem klassischen Königsberger Brückenproblem und an die Eulertour. Euler wies ja bekanntermaßen nach, dass ein Spaziergang über die dortigen 7 Brücken nicht möglich ist, ohne eine Brücke zwei mal zu überqueren. Apropos Euler - von ihm wird berichtet, dass er wirklich sein ganzes Leben in den Dienst der Mathematik stellte und keinen Augenblick für seine Forschung ungenutzt verstreichen ließ. Er soll zwischen dem ersten und zweiten Ruf zum Abendessen noch schnell Berechnungen abgeschlossen haben und beim In-den-Schlaf-Schaukeln seines Kindes immer mit der anderen Hand noch einen Beweis entworfen haben, was mich an ein Bonmot von Sir Arthur Eddington erinnert: "Der Beweis ist ein Götze, vor dem der Mathematiker sich foltert."

Von dem Problem der Übertreibung sprachen wir ja schon an anderer Stelle. Aus der Sicht der Mathematik müssen wir allerdings natürlich Euler für seinen Enthusiasmus und sein Vergnügen an Entdeckungen sehr dankbar sein.

Ein schönes Wegeproblem findet sich ja auch, wie man in dem Buch "Alles Mathematik" nachlesen kann, in Friedrich Schillers Schauspiel "Wilhelm Tell".

Nach dem berühmten Apfelschuss ist Tell am Ufer des Vierwaldstätter Sees, am Rande des Ortes Altorf. Er muss vor dem Reichsvogt Hermann Geßler schnellstmöglich die Hohle Gasse in Küßnacht erreichen. Es heißt bei Schiller:

Tell: Nennt mir den nächsten Weg nach Arth und Küssnacht.
Fischer: Die offne Straße zieht sich über Steinen,
Doch den kürzern Weg und heimlichern
Kann Euch mein Knabe über Lowerz führen.
Tell: Gott lohn Euch Eure Guttat. Lebet wohl.

Es wird hier also ein graphentheoretisches Optimierungsproblem gelöst.

Das Wegenetz am Vierwaldstätter See stellt den Graphen dar, die Reisezeiten sind die Kantenlängen, zwischen zwei vorgegebenen Punkten (Altorf und Küßnacht) ist der kürzeste Weg zu bestimmen. Literatur und Mathematik - eine schöne Kombination, wie ich meine.

Da wir schon bei den schönen Künsten sind:

Auch in der Musik spielt Mathematik seit jeher eine Rolle. Schon Pythagoras hatte anhand einer Leier entdeckt, dass den Harmonien in der Musik einfache Zahlenverhältnisse zugrunde liegen. Wurde auf dem wichtigsten Instrument der hellenischen Musik beim Zupfen ein Punkt gewählt, welcher nicht einen einfachen Bruchteil an der Gesamtlänge darstellte, harmonierte der Ton nicht mit den anderen Tönen.

Alles ist eben Zahl, wie das Credo von Pythagoras lautet. Vielleicht ist das der Grund, dass viele Mathematiker und Mathematikerinnen ein Instrument spielen und das oft noch sehr gut.

Aktuell sei bei der Thematik "Mathematik und Musik" auf die Idee der stochastischen Musik, also der Zufallsmusik, verwiesen. So mathematisch interessant diese Computermusik als "automatische Kunst" sein mag, ich halte mich lieber an Mozart. Hierfür habe Sie sicher angesichts des Berufsalltags einer Ministerin Verständnis.

Viel erheblicher ist die Bedeutung der Mathematik für die Medizin.

Von existentieller Bedeutung ist sie bei der Therapieplanung an virtuellen Krebspatienten. Eine präzise auf einzelne Patienten zugeschnittene Behandlung ist in diesem komplexen Bereich oft nur durch ein Zusammenspiel der Medizin, Mathematik und Informatik möglich. Auch beschäftigen sich z.B. aktuelle Berliner Forschungsgruppen mit dem Problem, mit schnellen Computern die Wirksamkeit neuer Medikamente vorherzusagen, damit der Kreis der Kandidaten, die intensiver untersucht werden sollen, erheblich eingeschränkt werden kann. Der Arbeitstitel dieses Projekts lautet - dies ist kein Scherz -

"Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren
Mathematiker."

Doch nun noch zu weiteren klassischen mathematischen Fragestellungen:

Dass die Beweisführung für mathematische Probleme manchmal etwas länger dauert, zeigt das Beispiel mit dem optimalen Stapeln von Orangen. Es ist kein Verbraucherschutzproblem, sondern - wie Sie wissen- eins der Mathematik. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um die Frage nach einer dichtesten Kugelpackung im 3-dimensionalen Raum. Beim normalen Stapeln wie es die Obsthändler machen, beträgt der Anteil Frucht am Raum, den der Stapel einnimmt, knapp drei Viertel. Dichter geht es nicht, behauptete der Astronom und Mathematiker Keppler schon vor mehreren hundert Jahren.

Im Jahr 1611 veröffentlichte er ein Buch mit dem interessanten und fast poetisch klingenden Titel "Vom sechseckigen Schnee", wobei beim Stichwort "Poesie" am Rande darauf hingewiesen sei, dass altindische Mathematiker ihre Gedanken in Reimen ausdrückten. Doch zurück zu Keppler.

In seinem Werk befasste sich Keppler nicht nur mit Schneeflocken als Beispiel in der Natur auftretender Formen und Muster, sondern auch mit den Kernen von Granatäpfeln, was ihn zu dem Problem der auf einen Raum "gepackten" Kugeln führte. Die Beweisführung für die Keppler-Vermutung war allerdings schwierig. 1998 scheint Thomas C. Hales aus Amerika dem Beweis sehr nahe gekommen zu sein. Nur um eine Vorstellung über die Dimension des Problems zu geben, sei erwähnt, dass sich die mit Computerhilfe vorgenommene Beweisführung von Hales über 250 Seiten erstreckt. Insgesamt werden dabei ungefähr 100.000 lineare Optimierungsprobleme betrachtet. Die Geschichte der Vermutung ist wohl noch nicht zu Ende. Ich hoffe nicht, dass sich künftig das Problem praktisch löst, indem die Gentechnik zu kubusförmigen Orangen führt.

Besonders faszinierend finde ich die abenteuerliche Geschichte des mathematischen Beweises von Fermats letztem Satz, wie sie von Simon Singh in seinem gleichnamigen Buch, das sich wie ein Wissenschaftskrimi liest, dargestellt wird.

In den Notizen von Fermat - der übrigens von Hause aus Jurist und gewissenhafter Staatsdiener war - gab es ja bekanntlich Hinweise, dass er einen mathematischen Beweis dafür gefunden hatte, dass der Satz des Pythagoras a2 + b2 = c2 zwar für jedes rechtwinklige Dreieck gilt und eine ganzzahlige Lösung ergibt, aber nicht mehr gilt, sobald die Potenz erhöht wird (Fermatsches Triple).

In den berühmten Randnotizen in seinem Exemplar der Arithmetica, die nach seinem Tod von seinem Sohn veröffentlicht wurden, hieß es:

"Es ist nicht möglich, einen Kubus in zwei Kuben oder ein Biquadrat in zwei Biquadrate und allgemein eine Potenz, höher als die zweite, in zwei Potenzen mit demselben Exponenten zu zerlegen. Ich habe dafür einen wunderbaren Beweis, doch ist der Rand zu schmal, um ihn zu fassen."

Fermats letzter Satz gilt als Himalajagipfel der Zahlentheorie.

Das Besondere an dem Problem war seine trügerische Schlichtheit. Generationen von begnadeten Mathematikerinnen und Mathematikern versuchten sich an der Lösung, bis bekanntermaßen endlich 1995 dem in Princeton (New Jersey) lehrenden genialen Mathematiker Andrew Wiles der Beweis gelang.

Wiles hatte sich dem Problem schon im Alter von 10 Jahren erstmals genähert. Der Umstand, dass die klügsten Köpfe des Planeten sich erfolglos an der Lösung versucht hatten, schreckte ihn nicht ab. 30 Jahre später und nach mehr als sieben Jahren einer für Mathematiker eher untypischen Einsiedler-Forschung, die sich auf die Lösung des Fermat-Problems konzentrierte, hatte Wiles das Heureka-Erlebnis und nahm der Mathematik ein Problem. Es warten ja auch genügend andere.

Fermat befasste sich auch mit den "befreundeten Zahlen", also solchen Paaren von Zahlen, welche die Summe der Teiler der jeweils anderen Zahl darstellen. Das Paar 220 und 284, das auch den Pythagoreern schon bekannt war, ist zum Symbol der Freundschaft geworden (Die Teiler von 220 sind 1,2,4,5,10,11,20,22,44,55 und 110, ihre Summe ist 284; die Teiler von 284 wiederum sind 1,2,4,71 und 142, ihre Summe ist 220).

Ein Numerologe aus Arabien berichtet, dort gebe es einen Brauch, 2 Früchte zu nehmen, jeweils die 220 in die eine und die Zahl 284 in die andere zu ritzen, um dann die erste zu essen und die zweite dem Partner bzw. der Partnerin zu geben.

Sie werden mir sicher alle zustimmen, dass dies gelebte und geliebte Mathematik in einer ihrer wohl schönsten Formen ist.

Ein englischer Bergsteiger antwortete einmal auf die Frage: "Why do you climb Mount Everest?" "Because it`s there!" Dass da ein Berg ist, der bezwungen werden muss: das ist die Herausforderung. Zum Beispiel ein Berg ungelöster Probleme. Und genau das ist der tiefere Grund für alle Spitzenleistungen und auch der Grund für die besonderen mathematischen Leistungen.

Das Stichwort der "besonderen mathematischen Leistungen" führt uns quasi automatisch zum Anlass dieser Veranstaltung. Ich möchte nunmehr gleich an Herrn Prof. Spiegel und Herrn Beutelmann zur eigentlichen Preisverleihung weiterleiten und zum Ende meines Vortrags kommen.

Abschließen möchte ich mit einem Bonmot des österreichischen Schriftstellers Egmont von Colerus (1888-1939), der neben seinen Romanen allgemeinverständliche Einführungen in die Mathematik schrieb:

"Die Mathematik ist eine Mausefalle. Wer einmal in dieser Falle sitzt, findet selten den Ausgang, der zurück in seinen vormathematischen Seelenzustand leitet."

Meine Damen und Herren, ich persönlich suche diesen Ausgang aus der "Mausefalle" erst gar nicht und habe nach dem Eindruck aus dieser Veranstaltung das Gefühl und die berechtigte Hoffnung, dass dies auch bei allen anderen Anwesenden hier genauso ist.

Besonders die Preisträgerinnen und Preisträger, denen ich für ihre Leistungen schon vorab ganz herzlich gratuliere, sitzen jedenfalls spätestens seit heute in der Falle. Sie haben sozusagen das mathematische Matterhorn mit Erfolg bezwungen und bekommen mit Recht auch noch einen Preis dafür. Für den mathematischen Seelenzustand ist dies sicher förderlich.

Ich wünsche Ihnen, der Bergischen Universität Wuppertal, dem Fachbereich für Mathematik und seinem Lehrkörper, dem gesamten Auditorium und seinen Studierenden für die Zukunft alles Gute.

Es wäre sehr schön, wenn der heutige Tag den Weg zu weiteren Preisverleihungen ebnet, das stiftende Versicherungsunternehmen entsprechend ermutigt und - dies ist das Wichtigste - für das wunderbare Fach der Mathematik mit Erfolg wirbt.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!